Augsburger Allgemeine (Land West)

Elftes Kapitel

Der verscholle­ne Flieger

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Da stürzt das Mädel auf sie los und hält ihr den Mund zu, der Bub erscheint in der Haustür mit einem Laib Brot und einer Vase, das Mädel schlägt der Alten den Stock aus der Hand – ich rase hinab. Die Blinde wankt, stolpert und stürzt, die drei Kinder sind verschwund­en. Ich bemühe mich um die Alte, sie wimmert. Ein Bauer eilt herbei, er hat das Geschrei gehört und hilft mir.

Wir bringen sie in das Haus, und ich erzähle dem Bauer, was ich beobachtet habe. Er ist nicht sonderlich überrascht: „Jaja, sie haben die Mutter herausgelo­ckt, damit sie durch die offene Tür hinein können; es ist immer dieselbe Bagage, man faßt sie nur nicht. Sie stehlen wie die Raben, eine ganze Räuberband­e!“„Kinder?!“

„Ja“, nickt der Bauer, „auch drüben im Schloß, wo die Mädchen liegen, haben sie schon gestohlen. Erst unlängst die halbe Wäsch. Passens nur auf, daß sie Ihnen im Lager keinen Besuch abstatten!“

„Nein – nein! Wir passen schon auf!“

„Denen trau ich alles zu. Es ist Unkraut und gehört vertilgt!“

Ich gehe ins Lager zurück. Die Blinde hat sich beruhigt und war mir dankbar. Wofür? Ist es denn nicht selbstvers­tändlich, daß ich sie nicht auf dem Boden liegen ließ? Eine verrohte Gesellscha­ft, diese Kinder!

Ich halte plötzlich, denn es wird mir ganz seltsam zumute. Ich entrüste mich ja gar nicht über diesen Roheitsakt, geschweige denn über das gestohlene Brot, ich verurteile nur. Warum bin ich nur nicht empört? Weil es arme Kinder sind, die nichts zum Fressen haben? Nein, das ist es nicht.

Der Weg macht eine große Krümmung, und ich schneide ihn ab. Das darf ich mir ruhig leisten, denn ich habe einen guten Orientieru­ngssinn und werde das Zeltlager finden.

Ich gehe durch das Unterholz. Hier steht das Unkraut und gedeiht. Immer muß ich an das Mädel denken, wie es sich reckt und über die Hecke schaut. Ist sie der Räuberhaup­tmann? Ihre Augen möchte ich sehen. Nein, ich bin kein Heiliger!

Das Dickicht wird immer schlimmer.

Was liegt denn dort?

Ein weißer Karton. Darauf steht mit roten Buchstaben: „Flugzeug“. Ach, der verscholle­ne Flieger! Sie haben ihn noch nicht gefunden. Also hier bist du abgestürzt? War es ein Luftkampf oder ein Abwehrgesc­hütz?

Bist du ein Bomber gewesen? Jetzt liegst du da, zerschmett­ert, verbrannt, verkohlt. Karton, Karton!

Oder lebst du noch?

Bist schwer verwundet, und sie finden dich nicht?

Bist ein feindliche­r oder ein eigener? Wofür stirbst du jetzt, verscholle­ner Flieger?

Karton!

Und da höre ich eine Stimme: „Niemand kann das ändern“– es ist die Stimme einer Frau. Traurig und warm. Sie klingt aus dem Dickicht.

Vorsichtig biege ich die Äste zurück.

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