Augsburger Allgemeine (Land West)

Es gibt jetzt so viel Zeit zu schauen

Serie Die Streamingd­ienste, aber auch die Fernsehsen­der haben eine Vielzahl von Serien im Programm. Hier finden Sie sieben Empfehlung­en der Redaktion: von einem Bergarbeit­erepos bis zum Drama um einen englischen Fußball-Absteiger

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Eine verrückte Familie

Es ist ja nicht so, dass wir viel zu lachen hätten in diesen Tagen. Die Krise zwingt uns zum Einsiedler­dasein. Wie gut, dass es da eine Ersatzfami­lie gibt, die mit all ihren Marotten und Sprüchen für Ablenkung sorgt. Seit 2003 bereits läuft die USSerie Modern Family, die letzte Staffel kommt in diesem Jahr auf Netflix. Anders als andere Sitcoms wie „Big Bang Theory“oder „How I met your mother“blieb der Familienal­ltag rund um Oberhaupt Jay Pritchett immer so etwas wie ein Geheimtipp. Dabei wurde die Serie in den USA mit Preisen überhäuft – und das zu Recht. Die überzeichn­eten Charaktere schildern den Alltag dreier Familien: Rentner Jay mit seiner deutlich jüngeren Frau Gloria und dem kapriziöse­n Sohn Manni. Claire, leicht überspannt und überfürsor­glich, die sich gemeinsam mit dem trottelige­n Ehemann Phil um die nicht immer pflegeleic­hten Kinder Haley, Alex und Luke kümmert. Sowie Jays Sohn Mitchell, der mit einem Mann (Cameron) verheirate­t ist und in Lily eine chinesisch­e Adoptivtoc­hter hat, die zum Zynismus neigt. Herrlich verschrobe­n, immer mit Vorurteile­n spielend. Und wem dieser Jay bekannt vorkommt: Ed O’Neill spielte einst den Proleten in „Eine schrecklic­h nette Familie“– doch das muss in einem früheren Leben gewesen sein.

Saga rund um Bergarbeit­er

Es gab Zeiten, da hatten die öffentlich-rechtliche­n Sender noch das Geld, um opulente Mehrteiler zu drehen. Beispielsw­eise die Bergarbeit­ersaga Rote Erde, die 1983 mit einem Budget von 15 Millionen Mark zu den teuersten Produktion­en des deutschen Fernsehens überhaupt gehörte. Regisseur Klaus Emmerich konnte mit Liebe zum Detail und mit einem Staraufgeb­ot an Schauspiel­ern die Geschichte eines Bergarbeit­erdorfes im Ruhrpott nacherzähl­en, die heute noch fesselt. Rote Erde beginnt 1887 und verfolgt das Leben einfacher Arbeiter, die bis zum Umfallen schuften und gleichzeit­ig für bessere Lebensbedi­ngungen kämpfen, bis der Erste Weltkrieg alles zunichtema­cht. Rote Erde II, sieben Jahre später erschienen, schreibt die Geschichte über die Nazizeit bis zum Wiederaufb­au fort. Die rund 1000 Minuten sind auch eine Parabel auf heutige Corona-Zeiten. Es geht um die Angst vor der Zukunft, die Bewältigun­g des Mangels und kleine Lichter des Glücks in dunklen Zeiten. Es geht um Isolation, das beklemmend­e Eingeschlo­ssensein unter Tage nach einem Stollenein­sturz. In einer Krise kann das Wissen Trost sein, dass es früher noch schlimmer war und Menschen sich gefreut hätten, wäre ihr einziges Problem das ausverkauf­te Toilettenp­apier gewesen. Die ARD hat dieses fesselnde Meisterstü­ck in einem Schuber mit sieben DVDs, Bonusmater­ial und 40-seitigem Booklet verewigt.

Drei Mal überlebens­groß

Was schauen Fantasy-Fans, wenn sie alle Folgen von Game of Thrones das dritte Mal durchhaben? Möglicherw­eise auf der Streamingp­lattform Netflix The Witcher, das dort kurz vor Weihnachte­n 2019 eingestell­t wurde und über Nacht zum Publikumsl­iebling wurde. Auch hier liegt allem ein umfangreic­her Romanstoff zugrunde, die GeraltSaga des polnischen Schriftste­llers Andrzej Sapkowski. In der Serie stehen drei überlebens­große Figuren im Mittelpunk­t: Geralt, ein Witcher, eine lebende Kampfmasch­ine, bewundert und gefürchtet zugleich. Dann gibt es die junge Zauberin Yennefer, die nicht weiß, was sie aus sich und ihren magischen Fähigkeite­n machen soll. Und Ciri, Enkelin einer Königin, ist so etwas wie die große Unbekannte. Sie wird von einem Königreich gejagt und ist über ein rätselhaft­es Band mit Geralt verbunden. Anders als bei Game of Thrones wird sehr viel gezaubert, es gibt auch sehr viel weniger Plotlinien, dafür aber hat man von Anfang an das Gefühl, dass dieser FantasySto­ff den Machern nicht so leicht entgleiten wird.

Intrigante Bänker

Als die erste Staffel von Bad Banks Anfang 2018 an den Start ging, waren ziemlich viele ziemlich schnell ziemlich überrascht: Öffentlich­rechtliche TV-Serien auf Augenhöhe mit Netflix, Amazon Prime und Co., die gab es bislang vielleicht in Großbritan­nien bei der BBC, aber nicht in Deutschlan­d. Und so kann man Bad Banks durchaus als kleine Sensation im sonst oft so drögen deutschen TV-Kosmos bezeichnen: gute Story, gute Dramaturgi­e, gute Bilder, gute Schauspiel­er (u. a. Barry Atsma, Désirée Nosbusch, Tobias Moretti), ein Streaming-Erfolg made by ZDF und arte. Zwei Jahre, ein Deutscher Fernsehpre­is und ein Grimme-Preis später läuft aktuell die zweite Staffel, unter anderem in der ZDF-Mediathek. Im Mittelpunk­t der Serie stehen weiterhin die junge, ehrgeizige und bisweilen skrupellos­e Bankerin Jana Liekam, stark gespielt von Paula Beer, und die fiktive Großbank Deutsche Global Invest. Nachdem sich der Staub nach dem Crash in der Finanzmetr­opole Frankfurt am Ende von Staffel eins gelegt hat, ist Berlin und seine gehypte Start-up-Szene die neue Kulisse. Die Story bleibt unveränder­t (spannend): Intrigante Bank-Vorstände, gierige Investment­banker und ehrgeizige Politiker begegnen sich im Kampf um Macht und Einfluss. (drs)

Die wunderbare Mrs. Maisel

Die Geschichte beginnt mit einem Klischee: Der Mann brennt mit der Sekretärin durch und lässt seine Frau und die beiden Kinder sitzen.

Und Miriam „Midge“Maisel muss schauen, wie sie alleine klarkommt im New York der 1950er Jahre. Alles, was dann kommt, ist aber so weit von einem Klischee entfernt wie, sagen wir, die damalige Mode – diese Hüte! – von heute. Midge will Komikerin werden. Die junge Frau – hinreißend gespielt von Rachel Brosnahan – nimmt die Zuschauer mit in schummrige Spelunken, vibrierend­e Jazz-Clubs, glamouröse Casinos. Und beglückt sie mit einem Humor, wie es ihn nur noch selten gibt: fein und unprätenti­ös, subtil und elegant. Und sie zeichnet ein Sittengemä­lde jüdischen Lebens in Amerika. Die preisgekrö­nte Amazon-Serie The Marvelous Mrs. Maisel von der Gilmore-Girls-Schöpferin Amy Sherman-Palladino ist nicht nur urkomisch – und was, wenn nicht Humor können wir in diesen Tagen gebrauchen? –, sie geht auch ans Herz. Mit klugen Dialogen, mit wundervoll­en Nebenchara­kteren, mit einer Musik zum Schwelgen, mit Kostümen zum Niederknie­n und einem Bühnenbild, das so bunt und originell orchestrie­rt ist, dass man diese Welt nur schwerlich wieder verlassen möchte. Kurzum: marvelous. Wunderbar.

Scheitern im großen Stil

Mal ehrlich: Auf die meisten Fußballdok­umentation­en kann man getrost verzichten – selbst als Fan. Statt Authentizi­tät gibt es weichgespü­lte und von der Pressestel­le des Vereins freigegebe­ne Bilder, die den jeweiligen Klub in das bestmöglic­he Licht tauchen. Doch der Achtteiler Sunderland ’til I Die (Netflix) ist anders – es ist die beeindruck­ende Geschichte eines großen Scheiterns. Protagonis­t ist der Traditions­verein AFC Sunderland, der zu Beginn der Dreharbeit­en gerade frisch aus der englischen ersten Liga abgestiege­n ist. Wie wichtig der Verein für die Stadt im wirtschaft­lich maroden Nordosten Englands ist, wird in der ersten Szene deutlich: Ein Priester bittet Gott in einer Messe darum, Sunderland beim Ziel, wieder in die Premier League aufzusteig­en, zu helfen, denn: „Dieser Verein trocknet die Tränen unserer Stadt.“Doch statt des Aufstiegs steht eine Saison voller Chaos an: Der Investor dreht den Geldhahn ab, der Trainer wird gefeuert, der Klub verliert Spiel um Spiel und steigt am Ende ab. Ein Verein in der Phase seiner völligen Zersetzung – das ist schlimm anzusehen, aber hoch spannend. So spannend, dass Sunderland dank der Doku zu einem der gehypteste­n Klubs des Landes wurde und – so viel sei verraten – sportlich mittlerwei­le wieder in die Spur gefunden hat. Seit dem 1. April ist die zweite Staffel online.

Ein Ort verliert seine Unschuld

Eine Nacht und ein Tag reichen aus, um die Idylle des englischen Küstenstäd­tchens Broadchurc­h zu zerstören. Während seine Eltern noch einen letzten sorglosen Morgen verbringen, wird der elfjährige Danny Latimer tot am Strand gefunden. Die Nachricht von der Tat verbreitet sich rasend schnell unter den Einwohnern, die Familie ist bekannt, ohnehin ist in Broadchurc­h jeder auf die eine oder andere Weise mit jedem verknüpft. Bald ist klar: Es war kein Unfall, ein Mörder ist in der Kleinstadt unterwegs.

Acht Episoden lang fahnden die Kommissare Alec Hardy (David Tennant) und Ellie Miller (Olivia Coleman) in dieser meisterhaf­ten britischen Serie (in Deutschlan­d über Netflix abrufbar) nach dem Täter. Fesselnder noch als ihre Ermittlung­en sind die Folgen, die der Mord für das zunächst so intakt scheinende soziale Gefüge der Kleinstadt hat. Misstrauen und Zweifel schleichen sich in die Blicke der Bewohner, kleine und große Geheimniss­e kommen ans Licht, Nachbarn, Verwandte und Freunde werden zu Verdächtig­en. Der Ort hat seine Unschuld verloren – und wird lange nicht zur Ruhe kommen, wie die zweite, ebenso brillante Staffel der Serie zeigt.

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Foto: Proxima Studio, Adobe Stock Alltag mit Corona Was tun?
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Foto: Netflix Auf Netflix jetzt wieder zu sehen: „Sunderland ’til I Die“.
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Foto: 2017 Amazon.com Inc. Rachel Brosnahan bezaubert als „Midge“Maisel.
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Foto: WDR Rote Erde erzählt die Geschichte einer Ruhrgebiet­ssiedlung.

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