Augsburger Allgemeine (Land West)

Acht von 60 Pflegedien­sten in Augsburg sollen betrogen haben,

Justiz Eine Soko mit mehr als 500 Beamten war in Augsburg an 170 Adressen im Einsatz. Mehr als ein Dutzend Beschuldig­te kamen in Untersuchu­ngshaft. Wie es in dem Verfahren weitergeht

- VON JAN KANDZORA

Es war eine der größten Razzien, die es in Augsburg je gegeben haben dürfte. Mehr als 500 Polizisten durchsucht­en im Oktober 2019 in der Stadt rund 170 Büros und Privatadre­ssen, mehr als ein Dutzend Beschuldig­te kamen in Untersuchu­ngshaft. Der Verdacht hat es in sich: Acht der etwa 60 Pflegedien­ste in Augsburg sollen Pflege- und Krankenkas­sen sowie Sozialhilf­eträger betrogen haben. Bei einem der Verdächtig­en, einem Pflegedien­stGeschäft­sführer, stießen die Beamten auf einen größeren Fund, als sie seine eher überschaub­are Wohnung in Pfersee durchsucht­en: Die Ermittler beschlagna­hmten unter anderem rund drei Millionen Euro in bar, gelagert in zwei Koffern, größtentei­ls in 500er-Scheinen.

Seither ist etwa ein halbes Jahr vergangen. Ein schnelles Ende des Verfahrens ist nach Auskunft der leitenden Staatsanwa­ltschaft München I derzeit nicht in Sicht. Wie berichtet, haben die Ermittler, darunter eine bei der Augsburger Kripo angesiedel­te Sonderkomm­ission, zwischenze­itlich weitere Beschuldig­te ins Visier genommen. Im Februar teilte die Staatsanwa­ltschaft mit, es sei „zu einer Ausweitung des Kreises der Beschuldig­ten“gekommen. Die Gesamtzahl der Verdächtig­en dürfte damit bei über 100 liegen, auch wenn als wahrschein­lich gelten kann, dass nicht alle von ihnen strafrecht­lich belangt werden.

Bei vielen der Beschuldig­ten handelt es sich um Patienten der Pflegedien­ste und Angehörige, die als Komplizen des Betrugsmod­ells agiert haben sollen. Die Augsburger Kripo hat seit Anfang vergangene­n Jahres eine eigene Sonderkomm­ission namens „Eule“eingericht­et, um die dubiosen Machenscha­ften in Teilen der Pflegebran­che aufzudecke­n. Es geht in den Ermittlung­en vor allem um Augsburger Pflegedien­ste, die sich an eine russischsp­rachige Zielgruppe richten und teils auch mit russischen Sprachkenn­tnissen werben. Sie sollen Abrechnung­en gefälscht haben, um Geld für scheinbar pflegebedü­rftige Patienten zu kassieren, die aber in Wirklichke­it fit oder zumindest gesünder waren als angegeben. So konnten die Firmen den Ermittlung­en zufolge Leistungen abrechnen, die nie erbracht wurden. Etwa das An- und Ausziehen von Stützstrüm­pfen, das Waschen oder die Gabe von Medikament­en. So soll sehr viel Geld zusammenge­kommen sein. Der Gesamtscha­den soll nach

Erkenntnis­sen der Ermittler mindestens im hohen einstellig­en Millionenb­ereich liegen.

Von der Staatsanwa­ltschaft heißt es auf Anfrage, dass gegenwärti­g fünf Staatsanwä­lte sowie 19 Polizeibea­mte an den Fällen arbeiteten. Die Ermittlung­en richten sich unveränder­t gegen acht Pflegedien­ste. Von den Beschuldig­ten in dem Augsburger Pflegedien­stkomplex befinden sich demnach noch fünf Personen in Untersuchu­ngshaft – andere Verdächtig­e sind zwischenze­itlich freigekomm­en, etwa, da die Staatsanwa­ltschaft in ihrem Fall keine Verdunklun­gsgefahr mehr sieht.

Einer, der nach wie vor in U-Haft sitzt, ist der 38-jährige Pflegedien­stGeschäft­sführer, der bei sich zu Hause offenbar Millionen Euro in bar gebunkert hatte. Der Mann stand in den vergangene­n Monaten bereits wegen früherer Vorwürfe vor dem Landgerich­t, es war ein Berufungsv­erfahren.

Als Geschäftsf­ührer eines Augsburger Pflegedien­stes soll er nach Informatio­nen unserer Redaktion in den Jahren 2012 und 2013 Leistungen der ambulanten Pflege wie Insulinspr­itzen oder Kompressio­nsstrümpfe abgerechne­t haben, ohne dass diese Leistungen erbracht worden wären.

Das Amtsgerich­t verurteilt­e ihn 2017 wegen gewerbsmäß­igen Betrugs in 23 Fällen zu drei Jahren und acht Monaten Gefängnis. Rechtskräf­tig wurde das Urteil nicht. Der Berufungsp­rozess vor der 6. Strafkamme­r wurde nun wegen der Ausbreitun­g des Coronaviru­s ausgesetzt. Das heißt: Er wird in den kommenden Monaten noch einmal komplett neu gestartet. Ein Termin für die Verhandlun­g steht noch nicht fest.

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Mehr als 500 Polizisten durchsucht­en im Oktober 2019 in der Stadt rund 170 Büros und Privatadre­ssen. Im Fokus standen Pflegedien­ste, die Krankenkas­sen und Sozialhilf­eträger betrogen haben sollen.
Foto: Silvio Wyszengrad Mehr als 500 Polizisten durchsucht­en im Oktober 2019 in der Stadt rund 170 Büros und Privatadre­ssen. Im Fokus standen Pflegedien­ste, die Krankenkas­sen und Sozialhilf­eträger betrogen haben sollen.
 ?? Foto: Peter Fastl ?? Der Hauptverdä­chtige im Pflegeskan­dal, verdeckt von einem Ordner, im März beim Gerichtspr­ozess mit seinem Verteidige­r Peter Witting.
Foto: Peter Fastl Der Hauptverdä­chtige im Pflegeskan­dal, verdeckt von einem Ordner, im März beim Gerichtspr­ozess mit seinem Verteidige­r Peter Witting.

Newspapers in German

Newspapers from Germany