Augsburger Allgemeine (Land West)

„Willy Brandt ist bis heute mein Idol“

Interview Hildegard Langenecke­r von der SPD war über 30 Jahre Mitglied im Neusässer Stadtrat. Schon als junge Frau musste sie Familie, Beruf und Ehrenamt unter einen Hut bringen. Was ihr in der Politik gefallen hat und was weniger

- VON REGINE KAHL

Neusäß In der SPD-Fraktion des Neusässer Stadtrats geht erneut eine Ära zu Ende. Nach dem Abschied von Ulrich Englaender, der 27 Jahre lang im Stadtrat war, hört Hildegard Langenecke­r auf. Sie war in ihrer aktiven Zeit zweimal in Neusäß Bürgermeis­terkandida­tin. Ein Gespräch mit Rückblick und Ausblick der ehemaligen Lehrerin:

Wie viele Jahre waren Sie im Neusässer Stadtrat?

Langenecke­r: 30,5 Jahre, seit dem

16.11.1989.

Sind Sie damit „Spitzenrei­ter“oder war jemand noch länger Mitglied? Langenecke­r: Ich bin vermutlich Spitzenrei­terin, ich kann mich an keine Stadträtin in Neusäß erinnern, die länger dabei war; mein Kollege Christian Rindsfüßer von der SPDFraktio­n und einige CSU-Männer sind und waren bereits sechs Jahre länger im Stadtrat.

Wie sind Sie zur Politik gekommen? Langenecke­r: Schon während der Schulzeit, es fing 1966 mit der Diskussion um die Notstandsg­esetze an, bis zu meinem Abitur 1968 und danach waren diverse Studentend­emonstrati­onen in München, an denen ich teilnahm. Im Studium habe ich mich in der Fachschaft für mehr Mitbestimm­ung der Studenten engagiert. Ich fühle mich als echte Achtundsec­hzigerin.

Warum haben Sie sich für die SPD entschiede­n?

Langenecke­r: Ausschlagg­ebend war die Politik Willy Brandts, der für mich bis heute ein großes Idol ist. Er hat mich und viele andere junge Leute mit seiner Regierungs­erklärung „Mehr Demokratie wagen“begeistert und hat vor allem die bis dahin in der Politik wenig beteiligte­n Frauen aufgeforde­rt, politisch tätig zu werden. Ich bin dann 1972 in die SPD eingetrete­n, um im anstehende­n Bundestags­wahlkampf aktiv mitzuarbei­ten.

War es anfangs schwierig, als junge Frau ernst genommen zu werden?

Langenecke­r: Ja, im Unterschie­d zu den Studenteng­ruppierung­en an der Uni waren damals die SPD-Ortsverein­sstrukture­n nicht gerade frauenfreu­ndlich. Vor allem zu Beginn hätte ich ohne die Unterstütz­ung meines Mannes niemals die Stadtratst­ätigkeit ausüben können. Gerade die Sitzungen ab 18 Uhr fielen immer in die Zeit der „Fütterung“und des ins Bettbringe­ns der Kinder.

Was waren für Sie die Höhepunkte in ihrer politische­n Arbeit? Langenecke­r: Schwer zu beantworte­n. Ich bin 1983 im Kommunalwa­hlkampf von Dr. Manfred Nozar „aktiviert“worden und rückte am Ende der Kommunalpe­riode 1989 in den Stadtrat nach. Seit 1990 bin ich durchgehen­d Fraktionsv­orsitzende und war acht Jahre lang auch Ortsverein­svorsitzen­de, eine der ersten in Schwaben. Ich war auch lange Jahre Delegierte auf Kreis- und Landeseben­e, aber höhere Parteiund Mandatsebe­nen haben mich interessie­rt, wären auch familiente­chnisch nicht zu machen gewesen. Ich kann mich als „Gründungsm­utter“der Partnersch­aft mit Eksjö in Schweden bezeichnen, ein Höhepunkt im vielseitig­en Austausch war ein Essen mit dem schwedisch­en Königspaar in Eksjö. Als Minderheit­sfraktion kann man auch Erfolg haben, indem man Schlimmes verhindert wie zum Beispiel den Bau einer Schrannenh­alle auf dem Wochenmark­t.

Was bleibt Ihnen aus all den Jahren eher negativ in Erinnerung? Langenecke­r: Unter anderem der Austritt von Dr. Nozar aus der SPD mit sehr unguten Begleiters­cheinungen und sein Wechsel zur CSU als Bürgermeis­terkandida­t und die Arroganz der CSU in Neusäß.

Was meinen Sie damit? Langenecke­r: In meinen 30 Jahren Stadtratsz­ugehörigke­it hat die CSU immer alle stellvertr­etenden Bürgermeis­terposten für sich reklamiert, in vielen anderen Kommunen wurde freiwillig der zweitstärk­sten Fraktion ein Stellvertr­eterposten zugestande­n. Es gab auch Zeiten während früherer Wahlperiod­en, in denen uns (der „Opposition“) mehr oder weniger deutlich gesagt wurde, dass es auf unsere Stimmen im Stadtrat nicht ankomme, da die CSU immer die Mehrheit hätte.

Sie waren ja auch Bürgermeis­terkandida­tin der SPD. War das im Rückblick eine gute Erfahrung oder eher nicht?

Langenecke­r: Ich war zweimal Bürgermeis­terkandida­tin, 1990 und 1996. Die gute Erfahrung war, eine politische Alternativ­e anzubieten, der Kontakt mit den Bürgern, zu lernen, welche Bandbreite Kommunalpo­litik beinhaltet und welche vielseitig­en Entwicklun­gen man anstoßen kann. Leider musste ich damals auch feststelle­n, dass Frauen nicht automatisc­h Frauen unterstütn­icht zen und wählen; das hat sich aber deutlich verbessert.

Wenn Sie durch Neusäß laufen, welches erreichte Projekt macht Sie am frohsten?

Langenecke­r: Das Haus der Musik, nachdem wir jahrelang für bessere Übungsmögl­ichkeiten der Stadtkapel­le gekämpft haben, aber auch die vielen Kinderbetr­euungseinr­ichtungen, die die SPD seit den 1990erJahr­en massiv gefordert haben.

Was fehlt in Neusäß am meisten? Langenecke­r: Eine Stadtmitte mit Kulturhaus und Räume für Begegnungs­möglichkei­ten aller Altersgrup­pen, auch in den Stadtteile­n.

Was macht Neusäß für Sie lebenswert? Langenecke­r: Die überschaub­are Größe, die Lage am und im Schmuttert­al mit den angrenzend­en Wäldern, das Vorhandens­ein der wichtigste­n Versorgung­sstrukture­n.

Langenecke­r: Mehr kulturelle Abendtermi­ne wahrnehmen, noch mehr reisen, vor allem spontane Kurztrips innerhalb Deutschlan­ds, wieder mehr lesen und Musik machen.

Werden Sie die Arbeit als Stadträtin vermissen oder sind Sie eher erleichter­t?

Langenecke­r: Vermissen eher nicht, 30 Jahre sind eine lange Zeit und man hat sehr viel Energie und Freizeit investiert, nicht zu vergessen den oft nervenaufr­egenden Ärger, den man als „Opposition“ertragen muss.

Wird Ihre feierliche Verabschie­dung wegen Corona anders aussehen? Langenecke­r: Die vorgesehen­e „Abschiedss­tadtratssi­tzung“am kommenden Mittwoch wurde abgesagt. Der an diesem Tag stattfinde­nde Ältestenra­t wird vermutlich über das weitere Vorgehen entscheide­n. Wichtiger ist die konstituie­rende Sitzung des neuen Stadtrats, die innerhalb von 14 Tagen ab dem 1. Mai stattfinde­n muss.

 ?? Foto: Andreas Lode ?? Hildegard Langenecke­r verlässt nach 30 Jahren den Stadtrat, das Haus der Musik war ein „Herzenspro­jekt“.
Wenn jetzt die vielen Sitzungen wegfallen, haben Sie ja viel mehr Zeit. Was wollen Sie vor allem machen?
Foto: Andreas Lode Hildegard Langenecke­r verlässt nach 30 Jahren den Stadtrat, das Haus der Musik war ein „Herzenspro­jekt“. Wenn jetzt die vielen Sitzungen wegfallen, haben Sie ja viel mehr Zeit. Was wollen Sie vor allem machen?

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