Augsburger Allgemeine (Land West)
So unheimlich still ruht der See
Tourismus Der Gardasee ist das erste Häppchen Süden nach dem Brenner. Hier können die italienverliebten Bayern ihre Sehnsucht auf die Schnelle ausleben. Es ist ja nur ein Katzensprung. Doch in diesem Jahr ist zwischen Limone und Sirmione alles anders
Der See ruht so still. So ungewöhnlich still wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Denn eigentlich würde man sich jetzt hier auf die Hauptsaison vorbereiten. Bis zu den Pfingstferien ist es keinen Monat mehr. Paare würden an der Promenade entlangschlendern und überlegen, in welcher Bar sie den ersten Cappuccino des Tages trinken könnten. Oder sie würden sich ein wenig durch die Gassen treiben lassen und in dem einen oder anderen Geschäft herumstöbern. Radlergruppen würden am Hafen ankommen und Landkarten studieren. Vespas würden durch die Gassen knattern. Doch es ist still. So still wie eine Siesta, die sich wie zäher Kaugummi scheinbar unendlich in die Länge zieht. In diesen Corona-Tagen ist auch am See alles anders. Das dunkelgrüne Wasser liegt so klar da wie seit Jahren nicht. Sogar
auf den Grund könne man sehen. Wann gab es das zuletzt?
Der Gardasee. Das erste Häppchen Süden nach dem Brenner. Hier können die italienverliebten Bayern ihre Sehnsucht auf die Schnelle ausleben. Es ist ja nur ein Katzensprung. Da kann man auch mal übers Wochenende hin. Knapp fünf Stunden Fahrzeit von Augsburg aus und schon hat man die nördliche Spitze im Trentino erreicht – wenn man auf die obligatorische Pause in Bozen verzichtet und sich auf den schnellen Espresso an der Tankstelle Varco Est beschränkt. Dann ist es nicht mehr weit zur Abzweigung Rovereto und bald schon kommen die etwas schnöden HinterlandBetonsiedlungen und man schielt nach dem ersten Ausblick aufs Wasser. Wie wird es sein? Blau? Grün? In jedem Fall herrlich... Dass vielerorts mehr deutsche als italienische Gesprächsmelodien zu hören sind … Geschenkt!
Der Gardasee bleibt der Gardasee. Bei vielen Bayern hat er nicht von ungefähr den etwas vereinnahmenden Zweitnamen Lago di Monaco, Monaco wie München. Doch an den Gardasee zieht es alle. Die Kletterer nach Arco, die Mountainbiker donnern den Tremalzo hinunter, die Surfer und Segler lieben die Winde im Norden des Sees, die Golfer fahren in den Süden nach Desenzano, die Feinschmecker finden sowieso überall ihr Glück – und die Weintrinker auch. Die Kulturinteressierten lesen in der Italienischen Reise von Goethe nach, was der Dichter über Malcesine schrieb. Und an der Seilbahn des 2000 Meter hohen Monte Baldo treffen sich in der Hochsaison – zumindest gefühlt – alle. Denn der Blick von oben ist einfach atemberaubend.
Die Liebe der Bayern zum Gardasee brennt seit Jahrzehnten. Seit die ersten Neugierigen in den 50er und 60er Jahren mit ihren VW-Käfern und den VW-Bullis die Pässe hochschnauften, unten dann eng an eng ihre Zelte aufbauten und gemeinsam rätselten, wie man diese komischen langen Nudeldinger um die Gabel wickeln sollte, ohne dass die Soße auf den Petticoat spritzt.
Doch diesen Sommer ist nicht einmal ein Hauch Süden drin, nachdem das Außenministerium die weltweite Reisewarnung bis mindestens 14. Juni verlängert hat. Die Grenzen bleiben bis auf Weiteres dicht. Was in den Sommerferien sein wird? Wer weiß das schon.
Hätte Heike Hoffmann das geahnt, wäre sie sicherlich mit einem bis oben vollgepackten Kofferraum aus den Faschingsferien zurückgekehrt, die sie in der Po-Ebene verbracht hatte. Olivenöl vor allem und Wein hätte sie eingeladen. Die 57-Jährige kennt den Gardasee seit Studentenzeiten, verbrachte viele Urlaube am See und klapperte damals schon – mit dem Wein-Führer im Auto – die Winzer ab. So entstanden erst Kontakte und schließlich auch Geschäftsbeziehungen. Hoffmann betreibt in Pitzeshofen, einem Ortsteil von Dießen (Landkreis Landsberg), einen Internetversandhandel mit Spezialitäten vom Gardasee. Was sie an dieser Gegend fasziniert? „Ich glaube, ein Teil meiner Seele wohnt am Gardasee“, sagt sie. Dieser Blick von oben auf den See, das sei einfach „wunderschön“. Irgendwann ist die gebürtige Augsburgerin, die lange Jahre in Niedersonthofen im Oberallgäu gewohnt hat, dann zur Rezeptesammlerin geworden. In ihrem Buch „Genuss am Gardasee“stellt sie regionale Produzenten und authentische Rezepte vor. Rosentorte mit Mascarpone-Creme etwa oder Tortelli mit Kürbisfüllung. Wen wundert’s: Wurstel con Krauti und Deutsch Kaffee sind nicht dabei, obwohl sie doch irgendwie zum Gardasee (oder vielleicht zu ganz Italien?) gehören. „Die Zeiten sind längst vorbei“, sagt Heike Hoffmann. Sie ist überzeugt: In Italien hätten die Deutschen auch das Genießen gelernt, Dolce Vita eben. Spaghetti sind längst fester Bestandteil in der deutschen Alltagsküche. Und irgendwann wollten die Italiener eben auch ihre eigenen Gerichte kochen und das Kraut in der Dose lassen.
Der See ruht so still. Anita Seichter kann es vom Balkon ihres Hauses in Padenghe sehen. Kein Boot ist auf dem Wasser, kein Segelboot, kein Surfbrett…Nicht einmal die Fischer dürfen hinausfahren. Die kleinen weißen Schaumkrönchen tanzen ganz allein auf den Wellen. „Und das um diese Jahreszeit“, sagt die 48-jährige gebürtige Kemptenerin. Seit 20 Jahren lebt sie am Gardasee. Auch ihr Fischerboot Luna, mit dem sie am Wochenende so gern aufs Wasser fährt, um die Ruhe zu genießen, liegt seit März vertäut im alten Hafen von Desenzano. „Wir durften wegen der Ausgangssperre nicht aufs Wasser“, sagt die blonde Frau, die ihre Haare gerne zu einem sportlichen Pferdeschwanz zusammenbindet.
Der 50 Kilometer lange Gardasee erstreckt sich über Trentino, das Veneto und die Lombardei. Ausgerechnet die Lombardei, jene Region Italiens, in der es mit Abstand die meisten Corona-Infizierten und Todesfälle wegen des Virus gab. Am See habe es aber nur acht CoronaFälle gegeben, sagt Anita Seichter. „Hier war nichts.“Bilder wie aus Bergamo, die ganz Europa erschütterten, kenne sie auch nur aus dem Fernsehen. Das Leben habe sich dennoch verändert, der See seine Fröhlichkeit verloren. Man sehe niemanden mehr lachen. „Alle tragen Maske, erledigen nur schnell, was sie zu erledigen haben und verschwinden dann wieder in ihren Häusern“, erzählt Anita Seichter am Telefon von den Tagen während der Ausgangssperre. Ihren kleinen Kaffeeladen in Padenghe habe sie zwar geöffnet, aber es komme kaum jemand. „Und wenn, dann freue ich mich so sehr“, weil sie dann mal wieder ganz normal mit jemandem reden könne. Acht lange Wochen waren die Parks zu und die Promenaden abgesperrt. Seit Montag sind die strengen Regelungen etwas gelockert. Jetzt darf man wenigstens wieder spazieren gehen. Die Restaurants jedoch bleiben bis auf Weiteres geschlossen. Die Cafés aber dürfen wenigstens Espresso to go verkaufen. Die Lockerungen sind ein lang ersehnter Lichtblick nicht nur am Gardasee, und doch sei die Stimmung „total geknickt“. Die Straßen sind leer und in den Gassen der alten Fischerorte ist es unvorstellbar still. Manchmal höre man ein wenig Musik aus einem geöffneten Küchenfenster.
Vielleicht würde jemand, der von der Corona-Pandemie und ihren Folgen nichts wüsste, geradezu ins Schwärmen geraten: Denn auf einmal wirken die alten Orte am See wieder authentisch, wie sie einmal waren, bevor sie von Touristen überrannt wurden. Auch der Gardasee ächzte zuletzt unter der Last der Besuchermassen. Vor allem seit die Russen und die Chinesen den Gebirgssee für sich entdeckten.
Lazise, Malcesine und Sirmione ganz im Süden waren leidgeprüft und mussten Konsequenzen ziehen. Der Spiaggia Jamaica auf der schmalen Halbinsel von Sirmione gilt als der schönste am Gardasee – und als so was von „instagramable“. 1,36 Millionen Übernachtungen zählte der 8000-Einwohner-Ort, dessen Altstadt in einer beeindruckenden Scaligerburg mit Ringmauer liegt. Überfüllung garantiert. Zumal nur eine einzige Brücke in die Stadt führt. Und dann sind da auch noch die Tagesausflügler. Die Touristen wurden zwar nicht angefeindet, wie etwa auf Mallorca oder in Barcelona, doch das einstige Fischerörtchen sperrte den Autoverkehr aus und ließ selbst Radler nur zu Fuß hinein. Umweltschützer schimpften über Flächenfraß, künstlich aufgeschüttete Strände und ein überfordertes Abwassersystem.
Und jetzt? Reisen ist zuletzt in Verruf geraten: Overtourism, Flugscham und nun Brandhelfer bei der weltweiten Verbreitung des Coronavirus. Wird es jemals wieder so werden, wie es war? Anita Seichter hofft es sehr. „Der Tourismus muss zurückkommen an den See“, sagt sie. „Wir brauchen ihn so dringend.“Auch sie lebt mit ihrem Lädchen davon, dass Touristen einkaufen und ihren selbstgerösteten Kaffee mit nach Hause nehmen. Die Kaffeerösterei ist eine Institution am See, seit 1939 ein Familienbetrieb. Das Kaffeerösten hat sie von ihrem Schwiegervater gelernt. Auch einige Hotels und Restaurants beliefert sie normalerweise. Viele Bars und Restaurants am Gardasee hätten allerdings nur im Sommer in der Hochsaison geöffnet. Wenn für diese Gastronomen die Einnahmen für das ganze Jahr wegbrächen, wäre das nichts anderes als eine „Katastrophe“. Schon jetzt gebe es deutlich mehr Arbeitslose und Insolvenzen.
Der See hat in diesen Wochen seine Fröhlichkeit verloren
Die alten Orte wirken wieder, wie sie einmal waren
Anita Seichter hofft auf die Politiker. „Man kann den Austausch der Bevölkerung doch nicht auf Dauer verbieten“, sagt sie. Da würde man ja ansonsten das „Vertrauen in das offene Europa verlieren“.
Diesem offenen Europa hat sie ihr Lebensglück zu verdanken: Beim Skifahren, damals in der Schweiz, hat sie ihren Mann kennengelernt. Und nun kann sie nicht einmal einfach ins Allgäu zu ihren Eltern fahren, wenn es ihr danach sei oder diese krank würden. „Ich empfinde das als sehr belastend.“
Der See ruht so still. So ungewöhnlich still. Der Gardasee erholt sich. Das sieht man mit bloßem Auge, sagt Anita Seichter. An der Segelschule von Desenzano ist das Wasser nach vielen Jahren wieder so klar, dass man sogar den Grund sehen könne. Das ist so ungewöhnlich, dass es im Ort für Gesprächsstoff sorgt. Anitas Mann ist 58 Jahre alt und in Desenzano geboren. Auch er kann sich nicht daran erinnern, jemals am Hafen den Grund gesehen zu haben. Dass es dem See sichtbar besser geht, sei für viele das einzig Positive, das sie der Krisensituation abgewinnen können. Anita Seichter hat sich am Montag einen lang gehegten Wunsch erfüllt – die erste kleine Radtour ins Grüne. Das Eis am See muss noch warten.