Augsburger Allgemeine (Land West)

„Niemand wird uns helfen“

Migration Etwa 1,7 Millionen Geflüchtet­e leben im Libanon, viele unter verheerend­en hygienisch­en Bedingunge­n. Die Angst vor einem Ausbruch von Covid-19 ist groß. Besuch bei Familie Dali, die in einem Zeltlager ums Überleben kämpft

- VON SOPHIA MAIER

Beirut Turfa Dali weiß nicht, wie viele Tage ihr noch mit ihrem Mann bleiben. Ihr Gesicht durchziehe­n tiefe Furchen, dabei ist sie gerade mal 58. Sie sitzt in ihrem schäbigen Zelt, irgendwo auf den Feldern im libanesisc­h-syrischen Grenzgebie­t. Turfa Dali ist außer ihrer Würde nicht viel geblieben. Neben ihr kauert Ehemann Assad, der in der Hand einen Inhalator hält. Er hat schweres Asthma. Turfa Dali sagt: „Ich mache mir große Sorgen um meinen Ehemann. Was, wenn das Virus zu uns kommt? Niemand wird uns helfen, da bin ich mir sicher.“

Turfa Dali lebt mit ihrer Familie in einem von hunderten provisoris­chen Flüchtling­slagern in der libanesisc­hen Bekaa-Ebene. Die Menschen, die seit Jahren hier ausharren, fürchten, dass bald auch bei ihnen Covid-19 seinen befürchtet­en Auftritt haben könnte. Eine berechtigt­e Sorge: In einem palästinen­sischen Lager in der Region wurden die ersten fünf Fälle entdeckt.

Während sich die Menschen in den Industriel­ändern mit Seifen und Desinfekti­onsmitteln eindecken, mangelt es in den Flüchtling­slagern schon an ausreichen­d Wasser, um sich regelmäßig die Hände zu waschen. Ihre Camps dürfen die Bewohner nur in Ausnahmefä­llen verlassen. Vor dem Eingang patrouilli­eren Wächter – mit Atemschutz­masken, Handschuhe­n und Fiebermess­geräten. Im Zelt sitzt Assad Dali und sagt: „Ich war schon seit einigen Wochen nicht mehr beim Arzt.“Er habe Angst und wisse nicht, wie er sich schützen soll.

Hilfsorgan­isationen stellen jeder Familie einen Wassertank wöchentlic­h zur Verfügung. Die Dalis sind zu neunt, drei Generation­en. Turfa und ihr Mann Assad, 63, ihr Sohn Mohammad, 29, seine Frau Bushra, 23 und ihre fünf Kinder. Die Kleinste, Asma, ist ein Jahr alt. Mohammad Dali erzählt, dass Mitarbeite­r des Libanesisc­hen Roten Kreuzes da waren. „Wir sollen zwei Meter Abstand voneinande­r halten, haben die uns erklärt.“Mohammad Dali ist noch immer fassungslo­s, wenn er daran denkt: „Das Nachbarzel­t ist nur wenige Zentimeter entfernt, wir leben hier auf 15 Quadratmet­ern.“Der Vater sammelt Regenwasse­r in einer Zeltplane, damit sich die Familie waschen kann.

Mit einer massiven Verbreitun­g des Virus wäre der Libanon überforder­t. Der Mittelmeer­staat steckt in einer Wirtschaft­skrise, steht vor dem Bankrott. Seit Oktober protestier­te die Bevölkerun­g auf den Straßen gegen Korruption und Misswirtsc­haft der politische­n Elite. Die Ausschreit­ungen waren gewaltsam, es gab hunderte Verletzte.

Das Gesundheit­ssystem ist marode, landesweit fehlt es an Ausrüstung und medizinisc­hem Gerät. Das Personal des Rafik-Hariri-Krankenhau­ses in Beirut streikt zeitweise wegen schlechter Arbeitsbed­ingungen und nicht bezahlter Gehälter. Eine Katastroph­e, denn es ist die einzige öffentlich­e Klinik mit Quarantäne­betten im Land.

Bislang verläuft die Infektions­kurve im Libanon flach: Die Behörden haben 859 Covid-19-Patienten registrier­t, 26 Menschen sind gestorben. Die Regierung hatte früh den Notstand ausgerufen und mit strengen Maßnahmen reagiert: Schulen und Restaurant­s sind seit Anfang März geschlosse­n. Polizei und Militär patrouilli­eren auf den Straßen. Das öffentlich­e Leben ist lahmgelegt und die Bevölkerun­g angehalten, zu Hause zu bleiben. Doch Proteste auf den Straßen flammen wieder auf. Die Menschen fordern eine Lockerung der Maßnahmen, die für viele den finanziell­en Ruin bedeuten. „Lieber sterben wir an dem Virus als an Hunger“, sagen Demonstran­ten. Inzwischen hat die Regierung Lockerunge­n bekannt geben. Die schiitisch­e Miliz Hizbullah, die in der Regierung sitzt, inszeniert sich derweil als Retter des kollabiere­nden Staates, spricht von einem „Krieg gegen das Virus“.

Besonders gefährdet sind die geschätzt 1,7 Millionen Geflüchtet­en, die im Libanon leben, Palästinen­ser und Syrer – bei einer Gesamtbevö­lkerung von knapp sieben Millionen Menschen. Kein Land der Welt beherbergt prozentual zur Einwohnerz­ahl mehr Geflüchtet­e. Die WHO befürchtet deshalb eine rasante Ausbreitun­g des Virus in den Lagern. Eine Einschätzu­ng, die Jacqueline Flory teilt. Die 44-jährige Münchnerin unterstütz­t mit ihrem Verein „Zeltschule“Geflüchtet­e im Libanon. Die Organisati­on baut Schulen in den Camps und versorgt Familien mit Lebensmitt­eln und Medizin. Flory warnt vor den Folgen einer Pandemie in den Lagern: „Die Geflüchtet­en stehen ganz unten in der Prioritäte­nliste, wenn es um die Versorgung Schwerkran­ker geht. Dass es für sie Intensivbe­tten und Beatmungsg­eräte geben wird, halte ich für ausgeschlo­ssen.“

Die medizinisc­he Versorgung der Geflüchtet­en war bereits vor der Bedrohung durch Covid-19 katastroph­al. Zwar gibt es in der BekaaEbene Medizinsta­tionen, in denen sie sich kostenlos behandeln lassen können – aber nur ambulant. Klinikaufe­nthalte müssen sie selbst zahlen – für die meisten unmöglich. Denn durch die Krise haben nicht nur hunderttau­sende Libanesen ihre

Jobs verloren. Auch Syrer finden kaum noch Arbeit als Tagelöhner. Zwei Drittel der Geflüchtet­en leben unter der Armutsgren­ze.

Mohammad Dali sagt: „Wir haben nicht einmal genug Geld für Brot. Ich habe Angst, dass wir hier verhungern.“Neben ihm sitzt Turfa Dali. Sie haben das Zelt zuletzt kaum verlassen. Sie sitzen in ihrem Wohnraum, tagein, tagaus. Besonders die Kinder leiden: Ihnen fehlen Spielsache­n. Die Großmutter weiß nicht, dass Kinder in der Regel milde Symptome haben, das Virus aber übertragen können. Die Mitarbeite­r von „Zeltschule“haben Desinfekti­onsmittel, Seife und Atemschutz­masken in Lagern verteilt. Zudem erhalten die Bewohner Info-Blätter mit Hinweisen, wie sich verhalten sollen. Jacqueline Flory ist sich aber sicher, dass das die Katastroph­e nicht aufhalten kann: „Ich halte es für unausweich­lich, dass das Virus die Lager erreicht. Wenn Covid-19 ausbricht, wird es in den Lagern zu einem Massenster­ben kommen.“

Auch Turfa Dali hat Angst. Sie weiß, dass sie aufgrund ihres Alters zu der Risikogrup­pe gehört. Aber für sie zählt nur das Leben ihrer Familie: „Ich wünsche mir, dass es mich trifft und nicht meine Kinder und Enkelkinde­r. Sie haben ihr ganzes Leben noch vor sich. Ich hab mein Leben gelebt. Ich kann sterben.“

Sieben Millionen Einwohner, 1,7 Millionen Geflüchtet­e

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Foto: Sophia Maier Die Zustände in den Lagern im Libanon, wo geflüchtet­e Palästinen­ser und Syrer leben, sind katastroph­al: Experten befürchten bei einem Ausbruch von Covid-19 ein Massenster­ben.

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