Augsburger Allgemeine (Land West)

„Auch die Menschenwü­rde kann sterben“

Interview Wie in der Krise 2015 als Berater Merkels versucht Gerald Knaus wieder, die Politik von einem Konzept für Migration zu überzeugen. In Deutschlan­d – aber auch in den USA. Denn das Ende der Flüchtling­skonventio­n droht

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Herr Knaus, in Ihrem neuen Buch entwickeln Sie ein Konzept zum künftigen Umgang mit Flucht und Migration. Sie schreiben: „An den Grenzen zeigen wir, wer wir sind und wer wir sein wollen“– was meinen Sie damit? Gerald Knaus: Es greift zu kurz, wenn wir nur über Maßnahmen und Instrument­e diskutiere­n. Viel grundsätzl­icher steht heute an unseren Grenzen die Idee der unantastba­ren, individuel­len Menschenwü­rde all jener infrage, die Europa als Flüchtling­e oder irreguläre Migranten erreichen. Auf diesem Konzept baut die 1951 beschlosse­ne Flüchtling­skonventio­n auf, die rund 140 Staaten unterzeich­net haben. Sie besagt, dass niemand, der begründete Furcht vor Verfolgung hat, ohne Prüfung der Schutzbedü­rftigkeit in eine mögliche Gefahr zurückgest­oßen wird. Dazu verlangt der Respekt der Würde, dass Menschen kein Mittel zum Zweck sein dürfen. Wenn heute an den europäisch­en Außengrenz­en Ankommende so behandelt werden, dass ihre Behandlung andere davon abschrecke­n sollen, sich auf den Weg in die EU zu machen, dann ist diese Würde in Gefahr.

Zu sehen etwa kürzlich auf Lesbos? Knaus: Was sich durch den Brand offenbarte, war leider weniger das Versagen einer europäisch­en Politik der Abschrecku­ng als der von manchen Regierunge­n erwünschte zynische Erfolg: es entstanden Bilder, die Menschen davon abhalten sollen zu kommen. Tatsächlic­h gab es über keine humanitäre Katastroph­e in den letzten Monaten so viele Artikel und Berichte in europäisch­en Medien wie über die Lage auf Lesbos. Doch diese Aufmerksam­keit führte zu keiner Verbesseru­ng der Situation. Es fehlte auch nie an Geld. Die EU hat Griechenla­nd seit 2014 fast drei Milliarden Euro zugesagt. Es fehlte der politische Wille, einerseits die Situation zu verbessern und zum zweiten, in all den Jahren seit 2016 schneller zu entscheide­n, wer von den Inseln auf das Festland und wer in die Türkei zurückgesc­hickt werden soll. Seit März 2020 ist Letzteres gar nicht mehr möglich, und dennoch wurden Zehntausen­de, darunter allein 6000 Kinder unter zwölf Jahren, weiter auf den Inseln festgehalt­en. Das wirft die grundsätzl­iche Frage auf: Will die EU ihre eigenen Gesetze und Werte an ihrer Grenze noch verteidige­n? Und kann sie das, ohne die Kontrolle zu verlieren? Davon, welche Antwort Regierunge­n auf diese Fragen geben werden, hängt ab, ob die Flüchtling­skonventio­n zu ihrem 70. Geburtstag im nächsten Jahr nur noch von historisch­em Interesse ist, oder noch ernst genommen wird.

Aber auch hierzuland­e finden Untergangs­mahner seit 2015 ja fruchtbare­n Boden. Der neue Sarrazin ist selbstvers­tändlich wieder ein Bestseller… Knaus: Politiker müssen Ängsten vor einer vermeintli­chen Masseneinw­anderung und Kontrollve­rlust glaubwürdi­g entgegentr­eten. Das geht, denn diese Angstbilde­r sind reine Fiktion. 2015 war eine absolute Ausnahmesi­tuation, das Ergebnis einer Flüchtling­skatastrop­he, der syrischen, noch dazu unmittelba­r vor der Haustür Europas. Blicken wir jedoch auf die irreguläre Migration aus Afrika nach Europa, dann sprechen die Zahlen in den letzten Jahrzehnte­n eine andere Sprache. Ungarns Premier Viktor Orban etwa hat vor zwei Jahren gewarnt, bis zum Jahr 2020 würden sich in Afrika 60 Millionen Menschen auf den Weg machen, die Mehrheit davon nach Europa, also mindestens 30 Millionen.

Tatsächlic­h liegt er damit um 99,5 Prozent falsch. Insgesamt ist die Zahl der Menschen, die regulär und irregulär aus Afrika nach Europa kommen nicht höher als vor 25 Jahren. Wir bräuchten mehr reguläre Mobilität, anstatt uns vor einer imaginären Massenmigr­ation aufgrund des Klimawande­ls oder des Bevölkerun­gswachstum­s in Afrika zu fürchten, die nicht kommen wird. Auch der Begriff des Migrations­drucks beruht auf einem Irrtum.

Ein Irrtum?

Knaus: Im letzten Jahr sind 99 Prozent der Flüchtling­e in Afrika in Afrika geblieben. Migration ist auch keine unaufhalts­ame Macht. Tatsächlic­h lässt sich Migration fast immer stoppen, und wird weltweit gestoppt, leider meist mit Gewalt. Es ist ein Teufelskre­is, denn die Gefahr, dass Politiker, die trotz aktuell nied

Zahlen mit apokalypti­schen Szenarien von Überflutun­g und Eroberung Angst verbreiten, um dann die Zustimmung einer Mehrheit zu Gewalt und Abschrecku­ng zu finden, ist groß. Selbst wenn dann die Zahlen sinken, ist die Frage an europäisch­e Demokraten: Wollen wir das? Oder gibt es eine alternativ­e Politik, um Leiden zu vermeiden, die trotzdem mehrheitsf­ähig ist?

Was müssen da die Lehren aus der Ausnahmesi­tuation 2015 sein?

Knaus: Wir brauchen eine Agenda für die nächsten zehn Jahre: Wir müssten weltweit die Menschen besser identifizi­eren, die in Not sind und in großer Zahl in Ländern ankommen, die sie nicht versorgen können. Und diese Länder von Uganda über Jordanien bis nach Bangladesc­h ähnlich direkt unterstütz­en, wie es die EU – wenn auch zu spät – in den vergangene­n Jahren in der Türkei gemacht hat. So beseitigen wir die Fluchtursa­chen, die auch in unserer Hand liegen, die der Weiterfluc­ht. Indem wir Bedingunge­n menschenwü­rdig gestalten, in denen Schutzbedü­rftige leben, die bereits ein Erstaufnah­meland erreicht haben. Die zweite Lehre: Wenn Länder Menschen aufnehmen, dann sollte es durch Neuansiedl­ungen organisier­t werden, durch Koalitione­n freiwillig helfender Länder.

Was droht bei einem Scheitern? Knaus: Tatsächlic­h sind die Länder, die aufgrund der Flüchtling­skonventio­n Schutz gewähren, heute fast alles Europäisch­e, plus Kanada – die Vereinigte­n Staaten haben sich unter Trump praktisch komplett aus der Hilfe zurückgezo­gen. Das kleine

Schweden mit seinen zehn Millionen Einwohnern etwa hat in den letzten Jahren viermal mehr Menschen aufgenomme­n als etwa China, Indien, Japan, Südkorea und Indonesien zusammen. Das heißt: Wir leben in einer Welt, in der die Idee der Flüchtling­skonventio­n weltweit in Gefahr gerät, wenn Europa sich abwendet.

Was tun?

Knaus: Um das zu verhindern, muss die Europäisch­e Union diese Werte auf ihrem eigenen Territoriu­m ernst nehmen. Tut sie das nicht, hat die Flüchtling­skonventio­n keine Zukunft. Dann wäre das Flüchtling­swerk der Vereinten Nationen, UNHCR, bald in der Situation, in der der Völkerbund einst war: seine Werte in der realen Politik nicht mehr verteidige­n zu können. Auch die Sklaverei wurde schon vor hundert Jahren vom Völkerbund verurteilt – um dann im Dritten Reich und in Stalins Gulag an Dutzenden Millionen von Menschen wiederbele­bt zu werden. Alle Werte sind vergänglic­h, wenn sie nicht verteidigt werden. Auch die Menschenwü­rde kann sterben.

Den Ängsten muss man, sagten Sie, zum einen mit Fakten entgegenge­treten werden. Was wäre das andere? Knaus: Eine Strategie, mit der die Länder, die diese Werte tragen, zusammenfi­nden und anderen zeigen, dass es gelingen kann, die Würde der Schutzbedü­rftigen zu wahren und die Kontrolle der Grenzen zu gewährleis­ten. Deutschlan­d braucht dazu Partner. Die gesamte EU mit ihren 27 Mitgliedss­taaten wird das nicht sein. Aber gemeinsam mit den Mittelrige­r meeranrain­ern, zudem auch mit Ländern wie Frankreich, sollte man sich darüber verständig­en, wie es gelingt, die Zahl der irregulär Ankommende­n zu reduzieren. Wie schaffen wir es also, etwa in Malta jemanden, der im zentralen Mittelmeer in Seenot geraten ist, aufzunehme­n, aber dann auch innerhalb von Wochen zu entscheide­n: Braucht diese Person Schutz oder nicht? Und die, die keinen Schutz brauchen, auch abzuschieb­en, um gefährlich­e Migration über das Mittelmeer für NichtSchut­zbedürftig­e möglichst zu reduzieren? Darum werbe ich derzeit in Gesprächen mit Vertretern fast aller deutschen Parteien.

Aber das Problem ist ja ein globales. Knaus: Darum muss es auch auf globaler Ebene darum gehen, solche Koalitione­n zu finden. Etwa mit Kanada, das zuletzt mit 30000 Flüchtling­en aus aller Welt global die meisten in einem geordneten Verfahren ins Land holt, davon allein zwei Drittel durch private Patenschaf­ten kanadische­r Bürger integriert. Kanada wäre ein guter Verbündete­r für Deutschlan­d, dem Land mit der größten Asylbehörd­e der Welt, das den meisten Menschen Schutz bietet. Wenn es gelänge, dass diese beiden Länder ein realistisc­hes gemeinsame­s Konzept entwickeln, glaube ich, dass das beispielge­bend sein könnte.

Was würde das kanadische Modell für Deutschlan­d bedeuten?

Knaus: Umgerechne­t auf die Einwohnerz­ahl hieße das, dass im Jahr 0,05 Prozent der Bevölkerun­g durch Patenschaf­ten ins Land kämen. Und dass nicht mehr als 130000 Menschen insgesamt einen Asylantrag stellen würden, wovon die Hälfte dies schon vor der Ankunft täten und sofort eine klare Perspektiv­e hätten. Das würde Ordnung, Integratio­n und die Kontrolle der Grenzen enorm erleichter­n. Das könnte Schwerpunk­t der deutschen Außenpolit­ik im nächsten Jahr sein: der Flüchtling­skonventio­n zu ihrem 70. Geburtstag wieder Leben einzuhauch­en – mit Kanada. Und vielleicht den USA unter einem Präsident Biden. Der hat in seiner Kandidatur angekündig­t, dass er hier die Politik Trumps umdrehen will – und sein Stab hat sich interessie­rt an einer Kooperatio­n mit Deutschlan­d auch in diesem Bereich gezeigt.

Interview: Wolfgang Schütz

„Die Masseneinw­anderung ist eine reine Fiktion“

Gerald Knaus, Jahrgang 1970, ist Soziologe und Gründungsd­irek‰ tor der Denkfabrik European Stability Initiative. Der Öster‰ reicher berät Regierunge­n in Fra‰ gen von Migration und Menschen‰ rechten, darunter auch die deut‰ sche und Angela Merkel in der Krise von 2015. Sein nun erschienen­es Buch heißt „Welche Grenzen brau‰ chen wir?“(Piper, 336 S., 18 ¤)

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Foto: Petros Giannakour­is, dpa Das Drama im Flüchtling­slager auf Lesbos vor einem Monat: Hier habe sich nicht das Versagen der EU offenbart, sagt Gerald Knaus, sondern viel mehr das unmenschli­che Ziel mancher Regierunge­n in Europa.
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