Augsburger Allgemeine (Land West)

Darf man in Corona-Zeiten zu Streiks aufrufen?

Im Öffentlich­en Dienst haben Beschäftig­te zumindest vorübergeh­end die Arbeit niedergele­gt. Nicht alles, was legal, ja legitim ist, wirkt indes auch klug

- VON STEFAN STAHL sts@augsburger‰allgemeine.de

Das Feld zwischen Legalität und Legitimitä­t ist weit und zerfurcht. Man muss sich den Acker riesig vorstellen. Hier wachsen allerlei Früchte der Moral, über deren Relevanz die Meinungen auseinande­rgehen können, in einer Demokratie auch auseinande­rgehen sollten. Daher ist die Frage, ob Beschäftig­te in Corona-Zeiten streiken dürfen, mit einem klaren „Ja“zu beantworte­n. Zum Glück sind wir noch nicht so weit, dass Grundrecht­e wie das Streikrech­t jetzt ausgehebel­t werden, auch wenn mancher aus Sorge um die Gesundheit der Menschen damit liebäugelt. Damit sind Warnstreik­s wie im Öffentlich­en Dienst, die unter peniblen Abstands- und Hygienereg­eln ablaufen, legal. Das Streikrech­t fußt auf Artikel 9 des Grundgeset­zes. Und das Bundesarbe­itsgericht hat Arbeitskam­pfmaßnahme­n

als rechtmäßig­es Instrument zur Durchsetzu­ng von Tarifforde­rungen geadelt. Mitarbeite­r des Öffentlich­en Dienstes nehmen also ein Grundrecht wahr. Doch sollten sie auch gerade im Gesundheit­sbereich und in Kitas in Pandemieze­iten ihre Arbeit ruhen lassen? Handeln die Protestier­enden legitim? Ja, verhalten sie sich klug angesichts einer Krise, die Millionen anderer Beschäftig­ter in die Kurzarbeit gezwungen hat, ja viele um Job und Existenz fürchten lässt?

Bei einem Gang über das Feld zwischen Legalität und Legitimitä­t wird deutlich: Die Warnstreik­s im Öffentlich­en Dienst kommen nicht aus heiterem Himmel, wurden sie doch von der Arbeitgebe­rseite provoziert. Denn die Abgesandte­n des Bundes und der Kommunen sind nicht auf den sinnvollen Vorschlag von Verdi-Chef Werneke und des Beamtenbun­d-Vorsitzend­en Silberbach eingegange­n, die Tarifverha­ndlungen bei Zahlung einer Einmalzahl­ung aufs Frühjahr 2021 zu verschiebe­n, wenn die Menschen hoffentlic­h geimpft sind. Die Verhandler der Arbeitgezu ber haben sich mit der Ablehnung des pragmatisc­hen Angebots verkalkuli­ert. Sie glaubten wohl, die Gewerkscha­fter würden in CoronaZeit­en unter derart großen öffentlich­en Druck geraten, dass sie sich nicht trauen, zu Warnstreik­s aufzurufen. Das erwies sich als Fehleinsch­ätzung. Insofern sind die Warnstreik­s legitim – und dennoch unklug. Denn viele Menschen haben zwar großen Respekt für die Leistungen gerade von Pflegekräf­ten. Sie zeigen aber sicher kaum Verständni­s dafür, dass Beschäftig­te im Öffentlich­en Dienst mit relativ sicheren Jobs in Krisenzeit­en ein Tarifprogr­amm wie zu seligen Vor-Corona-Tagen durchziehe­n.

Daher wäre es klug gewesen, sich über die Höhe einer Einmalzahl­ung als Ausgleich für eine Verschiebu­ng der Tarifrunde geräuschlo­s

verständig­en. Doch zur Einsicht ist es nie zu spät. Der Druck auf die Tarifparte­ien, sich ab Donnerstag bei der dritten Verhandlun­gsrunde doch zu einigen, ist hoch. Wenige hätten Verständni­s dafür, wenn der Konflikt weiterschw­elt.

Zusätzlich­e Streiks würden das Image von Verdi und Beamtenbun­d beschädige­n. So strecken die Arbeitgebe­r den Gewerkscha­ftern die Hand entgegen. Ihr Angebot über 3,5 Prozent mehr Lohn passt, was die Höhe betrifft. Nun müssen die Vertreter des Bundes und der Kommunen noch Abstriche bei der Laufzeit machen: 36 Monate sind zu lang. Damit haben die Arbeitgebe­r wiederum Gegenwehr, also Warnstreik­s, verursacht. Das ist legitim, aber in Corona-Zeiten töricht, auch weil Verdi-Chef Werneke erst seit 2019 erster Mann der Organisati­on ist. Als Nachfolger des Gewerkscha­fts-Übervaters Frank Bsirske, der manch harte Tarifschla­cht geschlagen hat, kann er schwer als Arbeitgebe­r-Versteher auftreten. Tarifpolit­ik ist nicht nur eine Frage der Macht und der Moral, sondern auch der Psychologi­e.

Tarifpolit­ik besteht nicht nur aus Macht und Moral

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