Augsburger Allgemeine (Land West)
Luft raus, Krisenmodus ein
Theater Bluespots Productions hat ein Jahr lang auf seine Woyzeck-Premiere hingearbeitet. Nun zwingt der Lockdown das Ensemble dazu, den Termin zu verschieben. Neue Fähigkeiten sind gefragt, um die Motivation hochzuhalten
Hier hätte es sein sollen: Die „Woyzeck“-Inszenierung aus der Werkstatt von Bluespots Productions im Waschbetoncharme der Musikkantine hätte am Wochenende Premiere gehabt. Nahezu requisitenfrei, mit acht Figuren und dem Musiker Lilian Waworka auf der Bühne. Seit einem Jahr hatte die Gruppe in Kooperation mit dem ebenfalls freien Theater La Vie aus München das Drama von Georg Büchner gelesen, diskutiert, Texte gelernt, Kostüme getestet. Auch auf Corona ließen sich alle testen, bevor am vergangenen Wochenende die Gesamtproben beginnen sollten. Dann die Entscheidung der Staats- und Bundesregierung: Lockdown.
Die Premiere am Samstag ist abgesagt. Ein schwerer Schlag für die Künstler. „Als von einem auf den anderen Tag klar war, dass nichts mehr geht, und wir entschieden haben, alle Planungen einzustampfen, war ich erst mal platt“, erklärt Lisa Bühler, eine der drei Leiterinnen von Bluespots. Auch wenn nach mehreren Online-Konferenzen der April als neuer Termin für die Premiere angepeilt ist – bis dahin muss nicht nur das Leben, sondern auch die kreative Motivation aufrechterhalten werden.
Begeistert zeigt Bühler im Keller der verwaisten Kantine, was die Zuschauer am Samstag erwartet hätte. Ein rotes Sofa, das etwas verloren an der Wand steht, fällt ihr plötzlich auf. Das ließe sich gut als Eyecatcher für die Begrüßungszeremonie im Eingangsbereich einbauen, überlegt sie. Solche Details als Überraschung außerhalb des Bühnenbereichs sind Markenzeichen für die Gruppe um Bluespots. „Wir haben keine feste Bühne, wir suchen uns die Bühne in der Stadtlandschaft“, erzählt Bühler. Und dann haben in so einem offenen Konzept eben auch plötzliche Ideen und Eingebungen wie das rote Sofa Platz. Ansonsten wird die Kantine als Raum für sich stehen. Viel Requisite sei nicht nötig. „Die graue, etwas düstere Atmosphäre spiegelt die Stimmung im Stück perfekt“, sagt die gelernte Kulturmanagerin.
Noch am Tag der LockdownVerkündung durch die Bundesregierung, neun Tage vor der Premiere, war das Ensemble guter Dinge. Coronatests für alle hatten das Ansteckungsrisiko vermindert, Abstand und gruppenweises Üben waren eingeplant. „Wir hatten einen Probenblock im September und freuten uns auf den Ziellauf zur Premiere“, berichtet Kristina Beck, die Dramaturgin des Theaters. Freitag hätte Generalprobe sein sollen. Doch die harte Entscheidung wirkte auch befreiend, sagt sie. Ins Nichts spielen, ohne Perspektive auf das Endprodukt, die Vorstellungen vor Publikum, sei eine große Belastung. „Jeden Tag auf die Zahlen gucken, vorsorgliche Tests machen. Das wäre wie auf rohen Eiern laufen. Dann lieber mit Blick auf das nächste Frühjahr erst mal Pause machen“, fasst sie die Situation zusammen.
Georg Büchner hinterließ „Woyzeck“Ende des 19. Jahrhunderts als unfertiges Drama. Perfekt für ein Ensemble mit Ambitionen auf eigenwillige Inszenierungen. Zwar ist Woyzeck auch hier die Hauptfigur, die sich Gelegenheitsjobs und medizinischen Menschenversuchen aussetzt, um mit dem Geld über die Runden zu kommen, von seiner Frau betrogen wird und diese schließlich ermordet. Doch die irren Marktschreier und die wirre Nachbarin zum Beispiel wurden zu einer neuen Figur verschmolzen. Bluespots legt wie Büchner den Fokus auf die Frage, wie frei der Mensch in Entscheidungen sein kann. „Wir haben versucht, jeder der acht Figuren Tiefe zu verleihen. Marie, seine Frau, ist nicht einfach Opfer. Sie geht bewusst fremd, provoziert ihn, schillert zwischen Lebenslust und Pflichtgefühl“, erklärt Beck. Mit seiner realistischen Darstellung leistete Büchner einen zeitlosen Beitrag zur Frage, wie frei der Mensch sein kann, darf oder muss.
Bluespots selbst finanziert sich über ein fixes Jahresbudget von 30 000 Euro der Stadt, das reicht laut Bühler für Büro und Versicherungskosten sowie für Anschubfinanzierungen einzelner Produktionen. Hinzu kommen Projektförderungen des bayerischen Kultusministeriums. Die jetzt versprochenen Hilfen für freie Künstler sollten unbedingt noch modifiziert werden, kritisiert Lisa Bühler. „Für die Ausfallerstattung 75 Prozent des Novemberhonorars vom letzten Jahr anzusetzen, macht keinen Sinn, weil wir ja keine regelmäßigen monatlichen Einkommen kennen, manche hatten vielleicht Arbeit, aber das Honorar kam erst im Dezember“, erklärt sie. Sollte die Unterstützung etwas bringen, müsste unbedingt ein monatliches Durchschnittshonorar des gesamten letzten Jahres angesetzt werden.