Augsburger Allgemeine (Land West)

Luft raus, Krisenmodu­s ein

Theater Bluespots Production­s hat ein Jahr lang auf seine Woyzeck-Premiere hingearbei­tet. Nun zwingt der Lockdown das Ensemble dazu, den Termin zu verschiebe­n. Neue Fähigkeite­n sind gefragt, um die Motivation hochzuhalt­en

- VON STEFANIE SCHOENE

Hier hätte es sein sollen: Die „Woyzeck“-Inszenieru­ng aus der Werkstatt von Bluespots Production­s im Waschbeton­charme der Musikkanti­ne hätte am Wochenende Premiere gehabt. Nahezu requisiten­frei, mit acht Figuren und dem Musiker Lilian Waworka auf der Bühne. Seit einem Jahr hatte die Gruppe in Kooperatio­n mit dem ebenfalls freien Theater La Vie aus München das Drama von Georg Büchner gelesen, diskutiert, Texte gelernt, Kostüme getestet. Auch auf Corona ließen sich alle testen, bevor am vergangene­n Wochenende die Gesamtprob­en beginnen sollten. Dann die Entscheidu­ng der Staats- und Bundesregi­erung: Lockdown.

Die Premiere am Samstag ist abgesagt. Ein schwerer Schlag für die Künstler. „Als von einem auf den anderen Tag klar war, dass nichts mehr geht, und wir entschiede­n haben, alle Planungen einzustamp­fen, war ich erst mal platt“, erklärt Lisa Bühler, eine der drei Leiterinne­n von Bluespots. Auch wenn nach mehreren Online-Konferenze­n der April als neuer Termin für die Premiere angepeilt ist – bis dahin muss nicht nur das Leben, sondern auch die kreative Motivation aufrechter­halten werden.

Begeistert zeigt Bühler im Keller der verwaisten Kantine, was die Zuschauer am Samstag erwartet hätte. Ein rotes Sofa, das etwas verloren an der Wand steht, fällt ihr plötzlich auf. Das ließe sich gut als Eyecatcher für die Begrüßungs­zeremonie im Eingangsbe­reich einbauen, überlegt sie. Solche Details als Überraschu­ng außerhalb des Bühnenbere­ichs sind Markenzeic­hen für die Gruppe um Bluespots. „Wir haben keine feste Bühne, wir suchen uns die Bühne in der Stadtlands­chaft“, erzählt Bühler. Und dann haben in so einem offenen Konzept eben auch plötzliche Ideen und Eingebunge­n wie das rote Sofa Platz. Ansonsten wird die Kantine als Raum für sich stehen. Viel Requisite sei nicht nötig. „Die graue, etwas düstere Atmosphäre spiegelt die Stimmung im Stück perfekt“, sagt die gelernte Kulturmana­gerin.

Noch am Tag der LockdownVe­rkündung durch die Bundesregi­erung, neun Tage vor der Premiere, war das Ensemble guter Dinge. Coronatest­s für alle hatten das Ansteckung­srisiko vermindert, Abstand und gruppenwei­ses Üben waren eingeplant. „Wir hatten einen Probenbloc­k im September und freuten uns auf den Ziellauf zur Premiere“, berichtet Kristina Beck, die Dramaturgi­n des Theaters. Freitag hätte Generalpro­be sein sollen. Doch die harte Entscheidu­ng wirkte auch befreiend, sagt sie. Ins Nichts spielen, ohne Perspektiv­e auf das Endprodukt, die Vorstellun­gen vor Publikum, sei eine große Belastung. „Jeden Tag auf die Zahlen gucken, vorsorglic­he Tests machen. Das wäre wie auf rohen Eiern laufen. Dann lieber mit Blick auf das nächste Frühjahr erst mal Pause machen“, fasst sie die Situation zusammen.

Georg Büchner hinterließ „Woyzeck“Ende des 19. Jahrhunder­ts als unfertiges Drama. Perfekt für ein Ensemble mit Ambitionen auf eigenwilli­ge Inszenieru­ngen. Zwar ist Woyzeck auch hier die Hauptfigur, die sich Gelegenhei­tsjobs und medizinisc­hen Menschenve­rsuchen aussetzt, um mit dem Geld über die Runden zu kommen, von seiner Frau betrogen wird und diese schließlic­h ermordet. Doch die irren Marktschre­ier und die wirre Nachbarin zum Beispiel wurden zu einer neuen Figur verschmolz­en. Bluespots legt wie Büchner den Fokus auf die Frage, wie frei der Mensch in Entscheidu­ngen sein kann. „Wir haben versucht, jeder der acht Figuren Tiefe zu verleihen. Marie, seine Frau, ist nicht einfach Opfer. Sie geht bewusst fremd, provoziert ihn, schillert zwischen Lebenslust und Pflichtgef­ühl“, erklärt Beck. Mit seiner realistisc­hen Darstellun­g leistete Büchner einen zeitlosen Beitrag zur Frage, wie frei der Mensch sein kann, darf oder muss.

Bluespots selbst finanziert sich über ein fixes Jahresbudg­et von 30 000 Euro der Stadt, das reicht laut Bühler für Büro und Versicheru­ngskosten sowie für Anschubfin­anzierunge­n einzelner Produktion­en. Hinzu kommen Projektför­derungen des bayerische­n Kultusmini­steriums. Die jetzt versproche­nen Hilfen für freie Künstler sollten unbedingt noch modifizier­t werden, kritisiert Lisa Bühler. „Für die Ausfallers­tattung 75 Prozent des Novemberho­norars vom letzten Jahr anzusetzen, macht keinen Sinn, weil wir ja keine regelmäßig­en monatliche­n Einkommen kennen, manche hatten vielleicht Arbeit, aber das Honorar kam erst im Dezember“, erklärt sie. Sollte die Unterstütz­ung etwas bringen, müsste unbedingt ein monatliche­s Durchschni­ttshonorar des gesamten letzten Jahres angesetzt werden.

 ?? Foto: Mercan Fröhlich ?? Eigentlich hätten Bluespots Production­s am Wochenende in der Musikkanti­ne „Woyzeck“aufgeführt. Jetzt kann Lisa Bühler, eine der Leiterinne­n, nur den Ausweichte­rmin Frühjahr 2021 nennen.
Foto: Mercan Fröhlich Eigentlich hätten Bluespots Production­s am Wochenende in der Musikkanti­ne „Woyzeck“aufgeführt. Jetzt kann Lisa Bühler, eine der Leiterinne­n, nur den Ausweichte­rmin Frühjahr 2021 nennen.

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