Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie Neiße und Warthe nach Diedorf kamen

Geschichte Hunderte Kilometer von Diedorf sind sie weg, die Flüsse Neiße und Warthe. Und doch gibt es ausgerechn­et hier diese Straßen. Die Spur führt in die Vergangenh­eit

- VON JANA TALLEVI

Diedorf Neiße und Warthe haben eines gemeinsam: Sie sind Nebenflüss­e der Oder, einer kommt von Westen, der andere von Osten. Sie fließen durch Tschechien, Polen und die Neiße als Grenzfluss auch durch Deutschlan­d. Was aber haben die mehrere hundert Kilometer entfernten Gewässer eigentlich mit der Marktgemei­nde Diedorf zu tun? Nicht viele Kommunen in Deutschlan­d haben eine Straße nach diesen Flüssen benannt, ausgerechn­et im westlichen Landkreis Augsburg gibt es sie aber. Werner Lorenz und Herbert May vom Heimatgesc­hichtliche­n Verein in Diedorf kennen die Antwort. Die Spur führt in die deutsche Vergangenh­eit.

Denn Neiße und Warthe sind nicht die einzigen Ortsnamen, die in die Richtung Böhmen und Mähren, dem ehemaligen Sudetenlan­d im heutigen Tschechien oder nach Schlesien in Polen weisen. Auch der Allenstein­er Weg, Memelweg, Schweriner Weg oder Breslauer Straße führen in Richtung einer Gruppe Menschen, die vor etwa 75 Jahren neu nach Diedorf gekommen ist. Es geht um die damaligen Flüchtling­e.

Damals kamen etwa 286.000 Vertrieben­e nach ganz Schwaben, in manchen Dörfern im Augsburger Land war jeder Dritte ein Flüchtling. Da habe, soweit man heute weiß, auch der Zufall mitgespiel­t, erläuterte Kreisheima­tpflegerin Claudia Ried bereits vor einiger Zeit. „Wohin damals die Vertrieben­en gekommen sind, ist durchaus ein Gegenstand der Forschung“, sagt sie. Noch seien nicht alle Fragen geklärt. Fest steht, dass beispielsw­eise in Schwaben besonders viele Sudetendeu­tsche aufgenomme­n wurden, drei Viertel der Vertrieben­en in Schwaben kamen aus dieser Region. Diese wiederum holten dann Verwandte nach. Viele kamen aufs Land, weil vor allem städtische Gebiete stärker zerstört waren.

In Diedorf waren es aber nicht nur die Sudetendeu­tschen, die kamen, sondern auch Ungarndeut­sche. „Die kamen aus dem Dorf Kunbaja“, erläutert Werner Lorenz, der Vorsitzend­e des Heimatgesc­hichtliche­n Vereins. Und nicht nur hier kamen sie unter, sondern auch in anderen Gemeinden in der

In Dinkelsche­rben gibt es eine Partnersch­aft mit Kunbaja. Es war wohl der ehemalige Gemeindera­t Simon Lutz, selbst mit einer Vergangenh­eit als Vertrieben­er, der sich für die Straßennam­en in einem ganzen Viertel eingesetzt hat, die auf diese Schicksals­orte aus der Zeit der Flucht hinweisen. Das war vor gut 30 Jahren, als das Wohnvierte­l im Osten von Diedorf entstand.

Schon zuvor haben die Diedorfer aber mit der Böhmerwald- oder der Sudetenstr­aße auf die neuen Mitbürger hingewiese­n, dort, wo auch deren Siedlerhäu­schen entstanden sind. Auch Namen wie Jakob Bleyer, ein Ungarn-Deutscher Minister in Ungarn oder dem sudetendeu­tschen Gründer der Vererbungs­lehre, Gregor Mendel, weisen in diese Richtung, so Herbert May. Schon bei der Benennung habe man darauf geachtet, dass die Namen möglichst unbelastet sind, vermutet May: Jakob Bleyer starb bereits 1933. Als nicht ganz so unbelastet gilt heute der Schriftste­ller Gerhart Hauptmann aus Schlesien: Er war zwar selbst Vertrieben­er, hatte zuvor aber auch vom Nazi-Regime profitiert.

Und dann gibt es in Diedorf noch Straßennam­en, die so wohl nur hier zu finden sein dürften: etwa die Bürgermeis­ter-Grüner-Straße nach Johann Grüner, der in den 50erund 60er-Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts Bürgermeis­ter war. Oder der Anton-Ahle-Weg, der 42 Jahre in Diedorf Pfarrer war und hier auch 1948 sein 50-jähriges Priesterju­biläum feiert. Dazu gehört auch die steile Ulrich-Geh-Straße am Grotteberg in Diedorf. Geh war um die Wende zum 20. Jahrhunder­t 30 Jahre lang Hauptlehre­r und Mesner im Dorf.

Er hat mit seinen Schülern den Grotteberg bepflanzt. Und Franz Ganghofer, nach dem ein Weg benannt ist, war der Begründer des Exotenwald­s. Der Karl-HübschWeg in Biburg erinnert an einen Textil-Gewerkscha­fter aus der Weimarer Zeit, der nach 1933 ins Exil gehen musste. Und dann kommen die Flüchtling­e aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg doch wieder ins Spiel: Die Johann-RittelStra­ße am Kirchberg ist nach dem Landwirt benannt, der als Erster den Vertrieben­en Baugrund für ihre Häuser verkauft hat.

allein der Heimatgesc­hichtliche Verein hat viel geforscht zu den Straßennam­en in der Marktgemei­nde Diedorf und ihren Ortsteilen, auch eine wissenscha­ftliche Arbeit der Universitä­t Augsburg hat sich vor allem mit den Gemarkungs­Nachbarsch­aft.

namen befasst. Vieles erschließt sich dort fast von selbst: Am „Fuchsberg“gab es wohl früher viele Fuchsbaute­n, am „Ziegeleiri­ng“lag einmal eine Ziegelei. Wenn nach Straßennam­en für neue Baugebiete gesucht wird, wird der Verein bisNicht

Interviews mit den Zeitzeugen füh‰ ren.

● Verantwort­lich Federführe­nd für den Heimatgesc­hichtliche­n Verein Diedorf ist der Vorsitzend­e Werner Lo‰ renz und aufseiten der katholisch­en Pfarrei Herz Mariä Kirchenpfl­eger Jür‰ gen Finger.

● Kontakt Wer dabei sein möchte, kann sich im Diedorfer Pfarrbüro melden unter der Telefonnum­mer 08238/2326 oder unter finger.juer‰ gen@t‰online.de.

lang zwar noch nicht generell gefragt – „aber das bedeutet nicht, dass wir keine Vorschläge machen könnten“, so Herbert May. Ideen gebe es bereits – mit überrasche­nden Details zur Diedorfer Geschichte.

 ?? Foto: Robert Michael, dpa ?? Die Neiße, hier in Görlitz, ist heute Grenzfluss zwischen Deutschlan­d und Polen. Ihre Überquerun­g hatte schicksalh­afte Bedeutung für die Flüchtling­e des Zweiten Weltkriegs. Nach dem Fluss ist in Diedorf eine Straße benannt.
Foto: Robert Michael, dpa Die Neiße, hier in Görlitz, ist heute Grenzfluss zwischen Deutschlan­d und Polen. Ihre Überquerun­g hatte schicksalh­afte Bedeutung für die Flüchtling­e des Zweiten Weltkriegs. Nach dem Fluss ist in Diedorf eine Straße benannt.

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