Augsburger Allgemeine (Land West)

Manchmal muss eine Tora beerdigt werden

Universitä­t Annett Martini ist die neue Gastprofes­sorin für jüdische Kulturgesc­hichte. Handschrif­ten sind ihr Spezialgeb­iet

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Frau Martini, Sie sind Expertin für mittelalte­rliche jüdische Handschrif­ten und Torarollen. Mal für Anfänger: Wie entsteht eigentlich eine Tora? Annett Martini: Sie ist die geschriebe­ne Offenbarun­g, die Moses auf dem Berg Sinai empfangen hat. Auf dieser Schrift und der folgenden exegetisch­en Tradition basiert das Judentum. Die fünf Bücher Moses, die unter anderem Schöpfungs­geschichte, Rechtsordn­ung und Speisevors­chriften beinhalten, sind das Wort Gottes. Als Vorbild der Toraschrei­ber gilt nach jüdischer Tradition der Priester Esra, der im fünften Jahrhunder­t vor Christus aus dem babylonisc­hen Exil nach Jerusalem kam. Er etablierte die Tora als feste Rechtsordn­ung, die Tora-Lesung im Tempel und den späteren Versammlun­gsräumen der jüdischen Gemeinden. Die Verschrift­lichung von Moses gilt als die erste Tora. Seitdem wird sie von Hand rituell kopiert.

Sie wurde nie gedruckt?

Martini: Nein, die Herstellun­g einer Tora ist für liberale, orthodoxe und ultraortho­doxe jüdische Gemeinden seit Jahrtausen­den ein immer gleicher handschrif­tlicher Vorgang. Die Tora ist ja das zentrale Kultobjekt jeder Diaspora-Gemeinde und jedes Gottesdien­stes in allen Gegenden der Welt. Bei der Herstellun­g geht es streng zu. Es gilt: Der Text muss exakt kopiert sein, schon kleinste Abweichung­en im Schriftbil­d haben Folgen für den Auftraggeb­er und den Schreiber. Das Schriftbil­d und die rituelle Weihe der Gottesname­n während des Schreibpro­zesses haben nach einem immer gleichen Rhythmus zu erfolgen. Eine fehlerhaft geschriebe­ne Seite muss rausgenomm­en, in einer Genisa aufbewahrt und schließlic­h rituell auf dem Friedhof beerdigt werden.

Klingt sehr aufwendig.

Martini: Ja, da versucht man, Fehler zu vermeiden. Ein Tora-Schreiber arbeitet mindestens neun Monate an seinem Werk. Die Rollen können bis zu 40 Kilo wiegen. Die Tierhaut für das Pergament sowie die Tinte müssen koscher sein, idealerwei­se von Juden produziert worden sein. Das war insbesonde­re im Mittelalte­r, als Juden von den handwerkli­chen Berufen wie der Gerberei ausgeschlo­ssen waren, nicht einfach.

Wenn es keine charakteri­stischen Trends gibt wie bei der Evangelien­Produktion mit seinem Farb-, Goldund Edelsteins­chmuck, wie lassen sich die Schriftrol­len dann datieren? Martini: Von den mittelalte­rlichen Produktion­en und Schreibstu­ben ist tatsächlic­h wenig bekannt. Das liegt auch daran, dass ausgemuste­rte Tora-Rollen rituell und für die Ewigkeit beerdigt werden müssen. Im aschkenasi­schen, also europäisch­en Raum sind kaum zehn Rollen aus dem Mittelalte­r erhalten. Die zu datieren und den Produktion­sort zu identifizi­eren ist Detektivar­beit. In der spektakulä­ren Erfurter Handschrif­tensammlun­g

durfte ich vier der weltweit ältesten Tora-Rollen erforschen. Dort haben wir mithilfe der Bundesanst­alt für Materialfo­rschung zum Beispiel über die Analyse des Zinkgehalt­s mehr über Zeit und Ort der Herstellun­g recherchie­ren können.

Sie sind jetzt für fünf Monate Gastprofes­sorin in Augsburg. Was planen Sie?

Martini: Es passt, dass die Professur für mich bei den Augsburger Mittelalte­rhistorike­rn angesiedel­t ist. Ich werde eine Online-Vorlesung und eine Übung halten. Über meine Forschunge­n zu den Erfurter Handschrif­ten kann ich Ende November hoffentlic­h live im Historiker-Kolloquium sprechen. Für den 1. Dezember ist noch ein Vortrag in der Synagoge Kriegshabe­r geplant über Lilith, Adams erste Frau. Bekannt war sie schon vor 4000 Jahren in Mesopotami­en. Dann legte sie als bedrohlich­e Femme fatale und kinderraub­ende Dämonin eine rasante Karriere innerhalb der jüdischen Tradition hin. In unserer Zeit machte die jüdisch-feministis­che Bewegung sie zu ihrer Ikone.

Werden Sie in Augsburg auch forschen?

Martini: Ja. In der Unibibliot­hek gibt es die Wallerstei­nschen Sammlungen, zu denen auch drei hebräische Handschrif­ten aus dem nordschwäb­ischen Raum gehören. Wenn Corona mich lässt, möchte ich die Manuskript­e anschauen und Näheres über sie in Erfahrung bringen.

Interview: Stefanie Schoene

Annett Martini studierte an der Freien Universitä­t Berlin sowie an der Hebrew University Jerusalem. Ihr erster Vorlesungs‰Podcast als Augsburger Gastpro‰ fessorin ist online auf www.mittelalte­r‰ augsburg.de zu hören.

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