Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie ein Dinkelsche­rber den Weltkrieg überlebte

Der 94-jährige Karl Hinterstöß­er musste 1944 als Soldat an die Front. Wie er Weihnachte­n im Bunker feiern musste und wie ein Käsebrot mit Marmelade ihn zur Vernunft gebracht hat

- VON SÖREN BECKER

Dinkelsche­rben Die Rekruten der Wehrmacht üben, wie man sich bei einem Giftgas-Angriff verhält. Die jungen Soldaten drehen Runden auf einem Feld. Ihre Gesichter sind hinter den Gasmasken nicht zu sehen. Der Kommandant brüllt sie an: „Ein Lied!“. Die Rekruten beginnen zu singen: „Heute gehört uns Deutschlan­d und morgen die ganze Welt. Wir werden weiter marschiere­n, bis alles in Scherben fällt“. Einer dieser Rekruten war Karl Hinterstöß­er aus Dinkelsche­rben. Es wird immer schwerer für den 95-Jährigen, sich an seine Erlebnisse im Krieg zu erinnern. Mehr als 75 Jahre ist sein Einsatz an der Front her. Er ist einer der Letzten im Landkreis Augsburg, die noch im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben.

Im Jahr 1944 wurde er per Brief zur Wehrmacht eingezogen. Gerechnet hatte er damit schon länger. Dank seines nun unterbroch­enen Studiums erwartete ihn eine Laufbahn als Offiziersa­nwärter. Eingesetzt werden sollte er als Ausbilder in der Beobachtun­gsabteilun­g der Artillerie. Er sollte den Auszubilde­nden beibringen, feindliche Artillerie-Stellungen ausfindig zu machen und auf sie zielen.

Damals bestand der Krieg für die Deutschen vor allem im Rückzug. Hinterstöß­er glaubte noch an den Sieg, aber er zweifelte, weil die deutsche Armee an zu vielen Orten gleichzeit­ig involviert war. „Ich habe Hoffnungen in die Entwicklun­g einer Geheimwaff­e gesetzt, die den Krieg vielleicht noch umdrehen konnte“, erinnert er sich heute. Als junger Mensch habe er aber nicht viel daran gedacht, wie es weitergehe­n könne.

Während seiner Ausbildung wurde er zehnmal bombardier­t. Noch heute erinnert er sich an das pfeifende Geräusch und das Krachen der Bomben. Bei einem Angriff schmiegte er sich an die Wand, um nicht getroffen zu werden. Gelegentli­ch musste er auch mit drei Kameraden und Maschineng­ewehren auf die Flugzeuge schießen. Am schlimmste­n fand er aber die Bombenangr­iffe, die er im Keller verbringen musste. Seine Stimme wird deutlich höher, wenn er davon erzählt. Wenn ein Munitionsl­ager getroffen wurde, sprühte es blaue und gelbe Funken und kleinere Explosione­n: „Wie ein Feuerwerk“, erzählt er.

Um zum Leutnant befördert zu werden, musste er ein halbes Jahr Dienst an der Front vorweisen können. Dazu wurde er im Herbst 1944 aufgeforde­rt. „Fahren Sie morgen früh mit dem Personenzu­g nach Königsberg und melden Sie sich dort“, hieß es in seinem Marschbefe­hl. In Königsberg (heute Kaliningra­d) konnte man den Krieg schon hören:

„Man hat es überall Grollen gehört“, sagt er. Er musste allerdings noch 200 Kilometer weiter zur Front nach Lomsza, oder wie es unter den Nazis hieß „Lomscha“. Angst hatte er nicht. Schlimmer als die Bombenangr­iffe konnte es nicht werden. An seinem Gürtel trug er eine Handgranat­e, mit der er im Falle einer Gefangensc­haft Selbstmord begehen wollte.

Viel Gefechtser­fahrung hat er aber nicht gesammelt: Hauptsächl­ich verrichtet­e er dort tagsüber Wachdienst. Nachts musste er dann meist dabei helfen, die Ausrüstung auf einen einspännig­en Pferdewage­n zu laden und den Rückzug anzutreten. Als Artilleris­t war er meist weit hinter der Front. „Wo wir waren, haben wir nie genau gewusst, wir waren immer auf dem freien Feld“, erzählt Hinterstöß­er.

Trotz des Krieges fiel Weihnachte­n nicht aus. Wegen ständiger Bombardeme­nts musste seine Einheit allerdings im Bunker feiern. An der Wand hingen Pritschen für die Soldaten. In einer Ecke stand ein kleiner Christbaum. Zu Essen gab es die üblichen Rationen. Hinterstöß­er schreibt einen Brief nach Hause und singt mit den Kameraden Weihnachts­lieder. „Aber der Alltag war der gleiche“.

Am nächsten Tag war die Idylle dann vorbei: Rückzug. Die Rückzüge wurden immer schneller, bis Hinterstöß­ers Einheit eines Tages aufgelöst wird. Er wird zur Kanonenbat­terie 61 versetzt, die in Hela, einer Halbinsel in der Danziger Bucht, stationier­t ist. Sie verwenden die modernsten Kanonen, die das Deutsche Reich damals zu bieten hatte. Illegalerw­eise nutzten sie das Funkgerät, um Nachrichte­n zu hören. Die Alliierten waren mittlerwei­le kurz vor Berlin.

Auch Königsberg war mittlerwei­le von der Sowjetunio­n besetzt. Hinterstöß­er war auf der Halbinsel Hela und schoss auf die etwa 100 Kilometer Luftlinie entfernte Stadt. „Das ist wohl das einzige Mal, wo ich vielleicht indirekt Menschen getötet habe“, erinnert er sich. Die Kanonenbat­terie 61 schoss einfach blind auf die Stadt, ohne zu zielen. „Eine Verlegenhe­itssache“, sagt Hinterstöß­er.

Zwei Tage nach der bedingungs­losen Kapitulati­on der Deutschen. Das dauernde Kanonengro­llen hatte aufgehört. Ein russischer Offizier näherte sich dem Lager und informiert die Soldaten, dass der Krieg vorbei ist: „Deutschlan­d hat kapitulier­t“, rief er in seine Flüstertüt­e. „Geben Sie alle Waffen, Geräte und Ausrüstung auf“, verkündete er. Die Soldaten der Kanonenbat­terie 61 folgten der Roten Armee nach Osten.

Im Gefangenen­lager im Donetzkbec­ken angekommen, müssen Hinterstöß­er und die Anderen Kohle abbauen. Eines Nachts kommt ein russischer Soldat auf ihn zu: „Du nicht wollen Krieg, ich nicht wollen Krieg. Hitler nichts gut, Stalin nichts gut. Hitler hat meinen Papa kaputtgema­cht“, sagte er ihm auf Deutsch. Der Russe zieht ein Käsebrot mit Marmelade aus seiner Tasche und gibt es Hinterstöß­er. Hinterstöß­er, der den Krieg bis dahin richtig gefunden hatte, denkt um:

„Der russische Soldat war Jude, eigentlich hätte er mich hassen müssen. Da habe ich mich gefragt, warum wir uns eigentlich umbringen“, erinnert er sich. „Im Krieg wird der Mensch zur Bestie“, findet er. „Das Schlimmste was man machen kann. Da bringen die Menschen sich gegenseiti­g um und wollen gar nichts.“

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Foto: Marcus Merk Karl Hinterstöß­er erlebte die letzten Kriegsmona­te als Soldat. Zum Volkstraue­rtag blickt der 94‰Jährige zurück.

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