Augsburger Allgemeine (Land West)

Versehentl­ich erschossen

Waffen Im Februar 2019 fällt in der Würzburger Kaserne ein Schuss. Polizeisch­üler Julian Konrad stirbt, ohne Absicht niedergest­reckt von einem Kollegen. Jetzt ist dieser verurteilt. Doch Julians Eltern warten weiter auf Antworten – und halten die Erinneru

- VON BENJAMIN STAHL

Garstadt Zwei Fotobücher liegen auf dem Wohnzimmer­tisch. Vater Peter Konrad schlägt eines auf. Blättert, kommentier­t einige Bilder. Mit Tränen in den Augen. Auf allen Fotos ist der älteste Sohn der Familie abgebildet, Julian. Freunde und Kollegen von ihm haben die Seiten gestaltet. Sie zeigen Julian als Kind bei Familienfe­iern, als Jugendlich­en auf Festen. Julian beim Fasching, bei der Feuerwehr, auf Ausflügen. Bilder aus einer glückliche­n Zeit, die für die Familie aus Garstadt im Landkreis Schweinfur­t am 28. Februar 2019 mit einem Schlag endet.

An jenem verhängnis­vollen Donnerstag bereitet sich Julian, 21 Jahre alt, Polizeisch­üler, in Zimmer 14 der Kaserne der Bereitscha­ftspolizei in Würzburg mit einem 19-jährigen Kollegen auf eine Wachschich­t vor. Die zweite an diesem Tag. Gegen 21.30 Uhr fällt aus der Waffe des 19-Jährigen ein Schuss. Ermittler werden später zu dem Ergebnis kommen, dass dem Schuss ein simulierte­r Waffeneins­atz vorausgega­ngen sein soll. Der Schütze soll davon ausgegange­n sein, seine Waffe sei entladen gewesen.

Julians Vater Peter ist an jenem Donnerstag­abend bei einer Sitzung im Vereinshei­m des FC Garstadt, als zwei Polizeibea­mte und ein Seelsorger an der Tür des Einfamilie­nhauses am Ortsrand klingeln. Mutter Katja Konrad holt die Erinnerung daran zurück, um Fassung bemüht: „Sie sagten, sie müssten mich leider darüber informiere­n, dass mein Sohn angeschoss­en wurde.“Sie habe nachgefrag­t. Die Kugel, so hätten die Beamten berichtet, habe Julian in den Kopf getroffen, er sei lebensgefä­hrlich verletzt.

Als Katja und Peter Konrad in der Würzburger Universitä­tsklinik ankommen, ist Julian schon hirntot. Sein Ausbildung­sleiter ist auch im Krankenhau­s. „Ich habe ihn direkt gefragt, wie so was passieren kann“, sagt Peter Konrad. Bis heute ist diese Frage aus Sicht der Eltern nicht ausreichen­d beantworte­t – im Gegenteil: Es sind neue Fragen hinzugekom­men.

Am nächsten Tag werden die Maschinen, die Julian am Leben halten, mit Einverstän­dnis der Eltern abgestellt. „Es gab keine Hoffnung mehr. Auch wenn Julian ausgesehen hat wie immer“, sagt Katja Konrad. „Wir haben ihn umarmt und uns verabschie­det.“

Als „surreal“empfinden die Eltern im Rückblick die folgenden Tage, in denen sie auf das Ergebnis der Autopsie und die Freigabe von Julians Leiche warten. „Die ersten Nächte habe ich in Julians Bett geschlafen“, sagt Katja Konrad. „Wir haben uns aber nicht abgeschott­et.“Der Vater ergänzt: „Von früh bis spät waren Leute da.“

Verwandte, Freunde und Nachbarn besuchen die Konrads, drücken ihr Beileid aus. „Währenddes­sen hat man nur funktionie­rt“, sagt die Mutter auch mit Blick auf Julians zwei jüngere Brüder. Der mittlere, Timo, sei auch nach anderthalb Jahren noch nicht am Grab gewesen – „er kann es nicht“. Der jüngste, Luca, kam mit dem Downsyndro­m zur Welt. „Er kann seinen Schmerz nicht ausdrücken, war aber oft mit Tränen in den Augen dagesessen.“Auch als Polizeisch­üler sei Julian jeden Tag zu Hause vorbeigeko­mmen. Nun hängen nur noch Fotos von ihm an der Wand des elterliche­n Wohnzimmer­s.

Vater Peter Konrad blättert weiter in den Fotobücher­n. Julian von Freunden umringt, Julian an der Seite seiner Freundin. „Er ist wenigstens glücklich gestorben.“Und immer wieder Julian beim Fußball. Als Fan im Stadion oder mit seinen Mannschaft­skameraden des TSV Bergrheinf­eld und später im Trikot des FC Garstadt. Julian als Toreines Hallenturn­iers, als Aufstiegsh­eld. „Kurz nach Abpfiff und die Frisur sitzt, da hat er immer Wert drauf gelegt“, sagt Konrad und schmunzelt. Ein stolzer Vater, ein tieftrauri­ger Vater.

Zwölf Tage nach Julians Tod findet in Garstadt die Beerdigung statt. Rund 700 Trauernde drängen sich auf dem kleinen Friedhof der 400-Seelen-Gemeinde. Auch hier spielt der Fußball eine Rolle: Bei seinen Freunden hatte Julian den Spitznamen „Gomez“, der ehemalige Nationalst­ürmer war sein großes Vorbild. Als Mario Gomez vom tragischen Tod des „Gomez von Garstadt“erfährt, schickt er ein Trikot mit der Widmung „Ruhe in Frieden“. Kollegen bringen es zur Trauerfeie­r mit.

Die Eltern verarbeite­n ihren Verlust unterschie­dlich. Mutter Katja geht nach vier Wochen wieder arbeiten. Der Vater bleibt fünf Monate krankgesch­rieben. „Jetzt arbeite ich wieder und das tut auch gut.“Den Tod seines Sohnes hat er noch lange nicht verarbeite­t. Die Gedanken an Julian „sind von früh bis abends da“. Dazu kommen andere Gedanken. Einige Monate vor Julians Tod hatte ein Arbeitskol­lege Peter Konrad erzählt, er habe gelesen, dass die Polizei neue Waffen einführe. Und dass es Zweifel an deren Sicherheit gebe. „Ich habe damals geantworte­t: Das sind Profis, was soll schon passieren?“, sagt Peter Konrad kopfschütt­elnd.

Und dann war da dieses Gespräch mit Julian eine Woche vor dessen Tod. Unbeabsich­tigt hatte damals ein Polizist in einem Büro der Bereitscha­ftspolizei in Würzburg einen Schuss abgegeben. Die Kugel hatte ein Fenster durchschla­gen. Der Polizist sei davon ausgegange­n, seine Waffe sei ungeladen, hatte es danach geheißen. „Julian hat uns davon erzählt“, sagt der Vater. „Er hat dabei gesagt, dass er Respekt vor der neuen Waffe hat. Wie passt das zu dem, was im Gericht erzählt wurde?“Im Gericht – also im Prozess gegen den Polizeisch­üler, der Julian tödlich traf. In diesem Juli wurde der mittlerwei­le 21-Jährige nach Juin gendstrafr­echt wegen fahrlässig­er Tötung zu einem Jahr und drei Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Seit einer Woche ist das Urteil rechtskräf­tig.

Das Gericht glaubte einer Aussage des Angeklagte­n, wonach er und Julian in dessen Stube vor Beginn ihrer Wachschich­t um 22 Uhr einen Schusswaff­eneinsatz in Richtung Fenster simuliert hätten. Julian habe demnach mit angelegter Waffe „Deut-Schuss“– also ziehen, anlegen, sofort schießen – gerufen. Daraufhin, so der Angeklagte, habe er seine eigene Waffe aus dem Halfter gezogen und abgedrückt.

„Es kam uns vor, als sei Julian Mitangekla­gter“, sagt Peter Konrad. In seiner Urteilsbeg­ründung habe der Richter eine Mitverantw­ortung des Opfers betont. „Was wirklich passiert ist, weiß nur der Schütze – und Julian, aber der kann es nicht mehr erzählen“, sagt Peter Konrad. Bei der Aufnahmepr­üfung setze die Polizei Reife voraus, jetzt spreche das Gericht von „Leichtsinn“. Und der Richter habe gesagt,

dem Alter spiele man halt noch mit Waffen. „Wie passt das zusammen? Man fühlt sich verarscht.“

Für Julians Eltern sind viele Fragen unbeantwor­tet: „Muss es sein, dass Polizeisch­üler innerhalb von 24 Stunden 16 Stunden Wachdienst haben? Wie kam die Waffe geladen ins Zimmer? Warum gab es keine Kontrollme­chanismen, die das verhindern? Wie oft passiert es, dass bei der Polizei jemand unabsichtl­ich schießt, ohne dass es jemand mitbekommt?“Ihr Anwalt Jürgen Scholl spricht von einer „extrem unzureiche­nden Aufklärung“der Ereignisse durch das Gericht. So habe der Angeklagte bereits um 14 Uhr, nach dem Ende seiner ersten Wachschich­t an diesem Tag, seine Magazine abgegeben, aber die Kugel im Lauf der Waffe gelassen. Laut Scholl fragte ein Beamter an der Wachstatio­n beim Angeklagte­n nach, ob er seine Waffe entladen und kontrollie­rt habe. Der Polizeisch­üler, der später zum Schützen wurde, soll das bejaht haben. „Das Gericht hat den Beamten aber nicht als Zeugen geschützen­könig hört“, obwohl er zur Verhandlun­g gekommen und zur Aussage bereit gewesen sei, ärgert sich Scholl. Weitere Zeugen des Wachdienst­wechsels seien gar nicht geladen gewesen.

Vonseiten der Polizeifüh­rung sei der Familie „vollumfäng­liche Aufklärung“zugesicher­t worden. Der Präsident der Bereitscha­ftspolizei hatte den Konrads zuletzt geschriebe­n: Man sei dabei, die Waffen- und Schießausb­ildung nochmals zu verbessern und den Umgang mit Waffen noch sicherer zu gestalten. „Die Details würden wir Ihnen gerne bei einem persönlich­en Gespräch darstellen.“Das Schreiben ist vom Februar. Inzwischen wurde eine interne Ermittlung­sgruppe gebildet. „Da haben wir aber noch nichts gehört“, so Peter Konrad. Auch der aus dem Landkreis Schweinfur­t stammende Innenstaat­ssekretär Gerhard Eck (CSU) habe der Familie Antworten versproche­n. „Er war hier gesessen“, sagt der Vater und tippt auf den Wohnzimmer­tisch. „Passiert ist nichts.“Sein bitteres Fazit: „Die bayerische Polizei gibt keine Fehler in ihrer Organisati­on zu. Das nervt mich brutal.“

Antworten will auch der Garstadter Landtagsab­geordnete Paul Knoblach (Grüne). Er hat der Staatsregi­erung einen Katalog mit 23 Fragen zu dem Fall geschickt. Darin will er unter anderem wissen, ob „generelle Versäumnis­se beim Ablauf der Waffen- und Schießausb­ildung vorhanden sind“und welche Maßnahmen die Staatsregi­erung ergreift, um zu verhindern, dass sich ein solcher Fall in der Polizeiaus­bildung wiederholt. Knoblach ist ein Cousin von Katja Konrad. „Natürlich bin ich persönlich betroffen, weil ich zur Familie gehöre und mitbekomme­n habe, wie mein Heimatdorf über Tage verstummt war“, erklärt er. Als Abgeordnet­er sehe er sich aber in der Verantwort­ung: Schließlic­h gebe es „Lücken, die bisher nicht geschlosse­n wurden“. So habe es etwa „zur Verantwort­lichkeit der Ausbilder und denkbaren Fehlern in der polizeilic­hen Organisati­onsstruktu­r kaum Aussagen“gegeben.

Die Konrads glauben, dass ihre Fragen „nur über öffentlich­en Druck“beantworte­t werden. „Julian kann nicht zurückgeho­lt werden“, sagt Katja Konrad. „Es geht nur darum, dass sich so was nicht

Ex‰Fußballsta­r Mario Gomez schickte ein Trikot

Die Mutter des Schützen schrieb einen Brief

wiederholt.“Auch das Strafmaß sei zweitrangi­g: „Uns ist nicht damit geholfen, wenn der Schütze nie mehr einen Fuß auf den Boden bekommt.“

Eng befreundet, wie immer wieder berichtet wurde, seien Julian und der Schütze nicht gewesen. Auch waren sie keine Stubenkame­raden. „Er kam aus dem Nachbardor­f, sie kannten sich, waren Arbeitskol­legen, ab und zu haben sie zusammen gefeiert oder waren mal im Stadion. Aber er war nie bei uns daheim“, sagt Katja Konrad. Die Mutter des Schützen hat der Familie einen Brief geschriebe­n. Die Konrads aber wollen lieber auf Abstand bleiben, auch wenn die Mütter gemeinsam zur Schule gingen.

Peter Konrad blättert wieder in den Fotobücher­n. „Ich zeige die Fotos von Julian, weil ich will, dass Sie verstehen, was für ein Mensch er war.“Kollegial, hilfsberei­t, diplomatis­ch, überall beliebt, so beschreibe­n die Eltern ihren Sohn. Gute Voraussetz­ungen für den Polizisten­beruf. Da sind die Bilder von Julian in Uniform: „Es war sein Traumjob. Schon beim Kinderfasc­hing war er oft als Polizist unterwegs“, sagt Katja Konrad.

Die letzten Seiten zeigen Fotos vom ersten Spiel des FC Garstadt nach Julians Tod. Die Mannschaft in schwarzen Trikots, alle tragen die Gomez-Nummer 33. Das Trikot, das der Fußballer nach Garstadt geschickt hat, hängt jetzt gerahmt bei den Konrads im Flur.

 ?? Foto: Benjamin Stahl ?? Katja Konrad, Julians Mutter, mit einem Foto ihres Sohnes. Sie und ihr Mann Peter haben noch so viele Fragen.
Foto: Benjamin Stahl Katja Konrad, Julians Mutter, mit einem Foto ihres Sohnes. Sie und ihr Mann Peter haben noch so viele Fragen.
 ?? Foto: Nicolas Armer, dpa ?? Die Einfahrt zur Mainau‰Kaserne, Sitz der Bereitscha­ftspolizei, Abteilung Würzburg. In einer der Stuben des großen Gebäudes fiel der Schuss.
Foto: Nicolas Armer, dpa Die Einfahrt zur Mainau‰Kaserne, Sitz der Bereitscha­ftspolizei, Abteilung Würzburg. In einer der Stuben des großen Gebäudes fiel der Schuss.

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