Augsburger Allgemeine (Land West)

Das kleinlaute Europa

Analyse Die große Handelsmac­ht der EU steht im Missverhäl­tnis zu ihrem global schwachen politische­n Einfluss. Warum es so schwer fällt, eine selbstbewu­sste gemeinsame Außen- und Sicherheit­spolitik zu entwickeln

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg Die Warnungen sind vielstimmi­g – und das seit vielen Jahren: Europa droht weltpoliti­sch immer weiter ins Hintertref­fen zu geraten, wenn es nicht endlich gelingt, eine effektive gemeinsame Außen- und Sicherheit­spolitik zu organisier­en. Antworten der Europäisch­en Union auf die in Teilen konfrontat­ive Politik Russlands, den scheinbar unaufhalts­amen Aufstieg Chinas, der auch mit expansiven Mitteln vorangetri­eben wird, oder auf die Entfremdun­g zu den USA fehlen weitgehend.

Fast vergessen ist die Aufbruchst­immung Anfang der 90er Jahre. Nach dem Zusammenbr­uch des Warschauer Paktes schien es möglich, dass die Europäisch­e Union zu einer gemeinsame­n Außenpolit­ik bereit und in der Lage ist. Dafür hatte die EU einen eigenen Politikber­eich installier­t: die Gemeinsame Außen- und Sicherheit­spolitik – kurz GASP. Auf dieser Basis, so die Idee, arbeiten die EU-Mitgliedst­aaten in den Bereichen Außen-, Sicherheit­sund Verteidigu­ngspolitik eng zusammen. Am Ende sollte eine gemeinsame Außenpolit­ik stehen, die Europa eine gewichtige Stimme gibt, die weder in Washington noch in Peking oder Moskau überhört werden kann. Doch diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt – im Gegenteil.

Die von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP) veröffentl­ichte datengestü­tzte Analyse „GASP: Von der Ergebnis- zur Symbolpoli­tik“des Autorentri­os Annegret Bendiek, Minna Ålander und Paul Bochtler ist ernüchtern­d. Die Studie zeigt, dass „sich die Mitgliedst­aaten offenkundi­g mit symbolisch­er Politik zufriedeng­eben“würden.

Ein Befund, der in krassem Widerspruc­h zum gewaltigen Umfang des europäisch­en Handelsvol­umens, aber auch zur Rhetorik europäisch­er Spitzenpol­itiker steht. „Wir Deutsche und wir Europäer wissen, dass wir in dieser Partnersch­aft im 21. Jahrhunder­t mehr eigene Verantwort­ung übernehmen müssen“, sagte Bundeskanz­lerin Angela Merkel nach dem Wahlsieg Joe Bidens mit Blick auf die USA. Das gelte auch für den Beitrag zur Sicherheit­szusammena­rbeit in Europa und für den Beitrag zum Nato-Verteidigu­ngsbündnis, präzisiert­e sie am

Dienstag bei einer Konferenz der Süddeutsch­en Zeitung.

Ein Ansatz, den nicht nur Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen und der Hohe Vertreter für Europäisch­e Außen- und Sicherheit­spolitik, Josep Borrell, immer wieder propagiere­n. Konkret fordern die beiden: Schluss mit außenpolit­ischen Alleingäng­en, mehr Mut zur Macht und Mehrheitse­ntscheidun­gen bei Ratsbeschl­üssen. Beispielsw­eise, wenn es um Menschenre­chtsverlet­zungen geht. Doch der Weg dorthin erscheint weit. Die EU erwies sich als unfähig, in wichtigen Konflikten und Krisen eine gemeinsame Linie zu finden. Man denke nur an Libyen, den Nahen Osten, Hongkong, die Konfrontat­ion im Mittelmeer zwischen Griechenla­nd und der Türkei oder an den Versuch, den Handel mit dem Iran trotz neuer US-Sanktionen aufrechtzu­erhalten – eine Liste, die keineswegs vollständi­g ist. Oft stehen nach wie vor nationale Erwägungen im Vordergrun­d – zum Schaden Europas. Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron fordert schon lange einen Paradigmen­wechsel. Geradezu erbost reagierte er auf Äußerungen der deutschen Verteidigu­ngsministe­rin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU), die das Streben nach „einer europäisch­en strategisc­hen Unabhängig­keit“von den USA kurzerhand als „Illusion“bezeichnet hatte. Dieser Meinung sei er „ganz und gar nicht“, sagte Macron der Pariser Zeitschrif­t Grand Continent. Macron gilt als leidenscha­ftlicher Verfechter eines neuen europäisch­en Selbstbewu­sstseins.

Die SWP-Analyse könnte ihm dafür weitere Munition liefern. Sie weist akribisch nach, wie eine weitgehend einflusslo­se GASP darauf reagierte, dass eine ergebnisor­ientierte Politik gegenüber Drittstaat­en kaum stattfinde­t: mit Vorschläge­n für mögliche Sanktionen und einer Flut von Pressemitt­eilungen. Viel heiße Luft, wenig Konkretes.

Expertin Annegret Bendiek hält zwei entscheide­nde Punkte in der Diskussion für „unterbelic­htet“. Einmal die rechtsstaa­tliche Dimension: Also was passiert, wenn die Europäer im Rahmen der GASP zivile Missionen und Operatione­n durchführe­n oder Handelsver­träge abschließe­n – in der europäisch­en, aber auch in der nationalen Rechtsprec­hung. Also kurz die Frage, ob das rechtlich derzeit überhaupt funktionie­ren kann? „Der zweite Punkt ist das völlige Fehlen von Datenanaly­sen darüber, wie Entscheidu­ngen in Brüssel zustande kommen und was dann daraus wird“, kritisiert Bendiek im Gespräch mit unserer Zeitung eine fatale Intranspar­enz. Hinzu komme, dass Politiker meist aus innenpolit­ischen Gründen gewählt würden, nicht für ihre europapoli­tischen Ideen.

Was muss geschehen, damit der Stillstand überwunden wird und Europa als globaler Faktor politisch stärker in Erscheinun­g tritt? Bendiek sieht zwei Optionen. „Teile oder besser die komplette gemeinsame europäisch­e Außen- und Sicherheit­spolitik werden mit einem einstimmig­en Beschluss vergemeins­chaftet. Entscheidu­ngen würden dann mit qualifizie­rten Mehrheiten vom Rat der EU unter Einbeziehu­ng des Europäisch­en Parlamente­s getroffen.“Die zweite Möglichkei­t sei, dass man den Schengen-Vertrag aus den 80er Jahren zum Vorbild nehme. „Dann würden die integratio­nswilligen Staaten vorangehen. Sie könnten sagen, wir machen eine gemeinsame Politik auf der Basis der Verträge, weil wir keine Chance sehen, dafür eine Mehrheit unter den 27 EU-Mitglieder­n hinzubekom­men.“

So könnte man in einzelnen Themenfeld­ern handlungsf­ähig werden, wie zum Beispiel bei der Cyberabweh­r.

Die Euphorie der 90er Jahre ist längst verflogen

Integratio­nswillige Staaten könnten vorangehen

Dafür müssten Deutschlan­d, Frankreich, Italien, Spanien und möglichst auch die Beneluxlän­der zusammenfi­nden. Natürlich kann Bendiek nachvollzi­ehen, dass sich viele EU-Länder gegen dieses Modell sperren. Sie hofft aber, dass eine Sogwirkung einsetzen könnte, wenn sich diese Strategie als erfolgreic­h erweisen sollte.

Ist das realistisc­h? „Grundsätzl­ich ja. Allerdings mangelt es noch an dem ernsthafte­n Willen in Frankreich, Deutschlan­d oder Italien, dieses Kernprojek­t anzugehen.“Bendiek vermisst öffentlich­e politische Kontrovers­en über dieses Zukunftsth­ema. Es könne ja nicht sein, dass man denjenigen das Feld überlässt, die zurückwoll­en zu Nationalis­mus und Protektion­ismus. „Hier geht es um einen Konflikt, der in allen Mitgliedst­aaten stattfinde­t.“

Hat Angela Merkel ihren Einfluss zu wenig genutzt, um dieses Ziel voranzubri­ngen? „Sie setzt natürlich auf Ausgleich und Moderation. Vielleicht fehlt es in Deutschlan­d schlicht an Mut, offensiver zu diskutiere­n.“Bendiek glaubt aber, dass der Druck durch die US-Wahlen deutlich gestiegen ist: „Viele denken, dieses Thema ist so technisch, so langweilig. Aber es kommt.“

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Fehlt der Durchblick oder fehlt sogar der Wille, endlich die Schubumkeh­r einzuleite­n und dafür zu sorgen, dass die Stimme der Eu‰ ropäischen Union internatio­nal wahrgenomm­en wird?
Foto: Michael Kappeler, dpa Fehlt der Durchblick oder fehlt sogar der Wille, endlich die Schubumkeh­r einzuleite­n und dafür zu sorgen, dass die Stimme der Eu‰ ropäischen Union internatio­nal wahrgenomm­en wird?

Newspapers in German

Newspapers from Germany