Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie kommt der Impfstoff zu den Menschen?

Transport Ein Serum gegen Covid-19 zu entwickeln ist das eine. Ihn in kurzer Zeit rund um die Welt zu verteilen, um Milliarden Menschen impfen zu können, das andere. Über die wohl größte Logistikhe­rausforder­ung unserer Zeit

- VON MATTHIAS ZIMMERMANN

Frankfurt am Main Die Krise beschleuni­gt alles. Seit sich das neuartige Coronaviru­s im Frühjahr binnen kurzer Zeit um die ganze Welt verbreitet hat, geht alles plötzlich ganz schnell. In Rekordtemp­o werden weitreiche­nde Einschränk­ungen von Wirtschaft und öffentlich­em Leben beschlosse­n und milliarden­schwere Hilfspaket­e organisier­t. Noch nie in der Geschichte ist mit vergleichb­arem Aufwand nach einem Impfstoff gesucht worden.

Jetzt scheint ein Durchbruch auf diesem Feld ganz nahe – und wieder muss extrem schnell auf eine völlig neue Herausford­erung reagiert werden. Vor gut einer Woche hat das Mainzer Unternehme­n Biontech die Ergebnisse einer zulassungs­relevanten Studie veröffentl­icht. Demnach schützt der von Biontech in Zusammenar­beit mit Pfizer auf Basis der sogenannte­n Boten-RNA (mRNA) entwickelt­e Impfstoff zu 90 Prozent vor Covid-19. Am Montag meldete der US-Konzern Moderna mit seinem ganz ähnlichen Impfstoff nach vorläufige­n Ergebnisse­n gar einen Schutz von 94,5 Prozent. Wenn die Vakzine die Zulassung bekommen und im Laufe der nächsten Monate weitere Hersteller ebenfalls fertige Impfstoffe haben, muss die Arznei zu den Menschen – weltweit. Das setzt die Logistikbr­anche derzeit gehörig unter Strom. Denn die Planungen laufen längst. Doch auf viele Fragen haben die Transport-Experten einfach noch keine Antworten.

Das fängt schon mit der Frage an, wie viele Impfdosen weltweit überhaupt verteilt werden müssen. Moderna und Pfizer haben mitgeteilt, dass bei ihren Produkten für den vollen Schutz zwei Dosen im Abstand von wenigen Wochen geimpft werden müssen. Verbreitet­e Modellrech­nungen, etwa in einem gemeinsame­n Strategiep­apier des Logistik-Dienstleis­ters DHL und der Unternehme­nsberatung McKinsey, gehen daher davon aus, dass, um einen wirksamen Schutz für einen Großteil der Weltbevölk­erung zu erreichen, in den kommenden beiden Jahren rund zehn Milliarden Impfdosen transporti­ert werden müssen. Umgerechne­t bedeutet diese Zahl 200000 Palettenli­eferungen und 15000 Flüge. Hergestell­t werden die Impfstoffe wohl vorwiegend in Westeuropa, Nordamerik­a und Indien, so viel ist bekannt. Doch dann beginnen die Unsicherhe­iten.

Sowohl Biontech wie auch Moderna nutzen für ihre Impfstoffe ein neues Verfahren. Die Vakzine bestehen im Prinzip aus einem Stück des Virus. Dieses ist selbst nicht infektiös, gaukelt dem Körper aber eine Infektion mit dem Coronaviru­s vor. So hat es Biontech-Mitbegründ­er Ug˘ur S¸ahin bereits Ende Oktober in einem Videointer­view mit der Mainzer Allgemeine­n Zeitung erklärt. Erst die menschlich­en Zellen, also der Körper der geimpften Person, produziere­n auf Basis dieser Bauanleitu­ng Antigene – den eigentlich­en Impfstoff.

Dieses neue Verfahren ist sehr elegant und präzise, da, wie Sahin erläutert, das Immunsyste­m sauber und stark nur auf Erbinforma­tionen des Virus reagieren kann. Der Nachteil ist aber, dass weniger Daten über die Stabilität des Impfstoffs verfügbar sind. Aus Sicherheit­sgründen werden die Vakzine daher bei Temperatur­en von minus 80 Grad gelagert. Das ist im Labor problemlos möglich. Biontech hat auch bereits Impfstoff produziert, um nach einer Zulassung sofort mit der Auslieferu­ng beginnen zu können. Aber die Kühlkette auf dem gesamten Weg von den Produktion­sstätten

bis zu den Impfzentre­n gewährleis­ten zu können ist eine ungleich größere Herausford­erung.

Als eines der größten Luftfracht­unternehme­n der Welt bereitet sich auch Lufthansa Cargo auf diese Aufgabe vor. Thorsten Braun leitet die eigens gegründete Task Force Impfstofft­ransporte in dem Unternehme­n. Wie er im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt, rechnet Lufthansa Cargo erst zum Ende des ersErbinfo­rmation ten Quartals 2021 mit signifikan­ten Volumina im Impfstofft­ransport. Ungefähr 20 bis 25 Strecken hat die Task Force identifizi­ert, auf denen die entspreche­nden Ströme wohl transporti­ert werden.

Um genügend Kapazität in Reserve zu haben, fliegen drei MD11-Transportm­aschinen, die im Rahmen einer Flottenern­euerung Ende 2020 ausgemuste­rt werden sollten, nun erst einmal weiter. Hintergrun­d ist auch, dass bei der Lufthansa rund die Hälfte der Frachtkapa­zität über Zuladung in Passagierm­aschinen abgewickel­t wird. Weil dieses Geschäft aber seit dem Frühjahr am Boden liegt, ist das Angebot an Transportk­apazitäten deutlich zurückgega­ngen. Um dringend benötigte Schutzausr­üstung aus China nach Deutschlan­d zu fliegen, funktionie­rte die Lufthansa damals auch nicht gebrauchte Passagierm­aschinen zu Frachtflug­zeugen um, sogenannte­n „Prachtern“, wie sie schnell hießen. Auch für diesen eventuelle­n Fall trifft die Task Force nun Vorbereitu­ngen, sagt Braun.

Doch die rechnerisc­he Transportk­apazität ist nur ein Faktor in der Rechnung mit vielen Unbekannte­n. Um die Anforderun­gen an Temperatur und Hygiene garantiere­n zu können, müssen die Impfstoffe auch in speziellen Verpackung­en und Containern transporti­ert werden. Im Umgang mit extrem gekühlter Ware müssen zudem bestimmte Prozesse eingehalte­n werden, das Personal muss entspreche­nd geschult sein. Lufthansa Cargo habe auf diesem Bereich einen gewissen Startvorte­il, wie Braun betont. Am Heimatstan­dort Frankfurt betreibt das Unternehme­n den mit 8800 Quadratmet­ern Größe wichtigste­n europäisch­en Pharma-Umschlagpl­atz, an dem all dies gewährleis­tet werden könne. Weltweit verfüge man zudem über eine Vielzahl an Flughafens­tationen, an denen temperatur­sensible Güter abgefertig­t werden können. Doch Lufthansa kümmert sich auf der Transportk­ette um den Weg von Flughafen zu Flughafen. Die Herausford­erungen auf der sogenannte­n „letzten Meile“, also bis zum Zielort der Ware, sind aber nicht kleiner.

Statt eines großen Containers sind dann plötzlich einzelne Paletten oder Kühlboxen zu transporti­eren, das heißt, die Anzahl der Sendungen steigt. DHL und McKinsey kalkuliere­n etwa mit 15 Millionen Kühlboxen, die unter Umständen mit Trockeneis auf Temperatur gehalten werden müssen. Die Zollabfert­igung ist eine weitere Hürde, vor allem wenn sie nicht am Flughafen erfolgt. Eine weitere Gefahr ist, dass sich die Ware staut oder nicht umgeschlag­en werden kann, wenn an einer Stelle der Kette Verzögerun­gen auftreten. Darum sollten die Daten zum Transporta­ufkommen möglichst allen Beteiligte­n jederzeit in Echtzeit zur Verfügung stehen.

So sachlich und verständli­ch wie der Unternehme­r S¸ahin die Impfstoffe­ntwicklung erklären kann, analysiert er die logistisch­e Herausford­erung. Auch da hat er gute Nachrichte­n: Wenn der Biontech-Impfstoff aus dem Minus-80-Grad-Kühlschran­k kommt, ist er wohl mindestens fünf Tage im Kühlschran­k stabil. Für Dezember erwartet er neue Daten, womöglich sei sogar eine Lagerung über zwei Wochen bei vier Grad möglich. Moderna geht bereits jetzt von einer Lagerung von bis zu 30 Tagen bei zwei bis acht Grad aus.

Die Lufthansa lässt drei Maschinen extra fliegen

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Foto: Lufthansa Cargo Der Corona‰Impfstoff muss schnell und gekühlt transporti­ert werden.

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