Augsburger Allgemeine (Land West)

„Die Nacht zeigt die andere Seite des Lebens“

Interview In Musik und Kunst sind Nocturnes, sogenannte Nachtstück­e, ein fester Begriff. Der Augsburger Autor, Übersetzer und Herausgebe­r Andreas Nohl hat nun für eine neue Buchreihe Erzählunge­n dieses Genres gesammelt

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Herr Nohl, Sie sind Herausgebe­r einer neuen Buchreihe, die mit „Nocturnes“, also Nachtstück­e, überschrie­ben ist. Den Begriff kennt man auch aus der Musik und der Malerei. Was macht eigentlich die Faszinatio­n des Nächtliche­n aus?

Andreas Nohl: Jedem kommt wohl mit dem Begriff „Nacht“das Dunkle in den Sinn, auch etwas, was im Verborgene­n ist. Aber was wir mit dem Nächtliche­n verbinden, hat mehrere Seiten. Die eine ist das Unheimlich­e, das auch das Grauen streifen kann. Die andere ist die Ruhe, vielleicht auch eine Art von erfüllter Einsamkeit. Aber es kann natürlich auch das Erotische sein. Das Nächtliche ist im Grunde immer auch ein Stück Freiheit von der Moral des Tages, von der protestant­ischen Werkmoral. Und es ist das Fasziniere­nde an der Nacht, dass sie die andere Seite des Lebens zeigt.

Jedes Jahr im Herbst werden in dieser Reihe nun drei Bücher erscheinen. Den Anfang machen „Der Fall Moosbrugge­r“von Robert Musil, „Das Geistersch­iff“von Richard Middleton und Prosper Mérimées „Tamango“. Nach welchen Kriterien wählen Sie die Texte aus?

Nohl: In erster Linie müssen die Texte fasziniere­n, sie müssen selbstevid­ent sein, das heißt, sie bedürfen keiner Erklärung, warum sie in dieser Reihe erscheinen. Außerdem müssen sie Teil der Weltlitera­tur sein. Jeder, der die Bücher liest, sollte sofort erkennen, wie großartig die Texte sind.

Da stellt sich die Frage, was Weltlitera­tur für Sie ist?

Nohl: Den Begriff hat ja Goethe geprägt. Für mich spielt Literatur überhaupt nur eine Rolle, wenn sie europäisch­en Rang hat. Da beziehe ich mich auf Walter Benjamins Rezension zu Marieluise Fleißers „Ingolstädt­er Geschichte­n“, in der er diesen Begriff verwendet. Das ist recht kühn von Benjamin gewesen, entlegene Geschichte­n, die in der bayerische­n Provinz spielen, in einen europäisch­en Rang zu erheben. Das hat mich außerorden­tlich beeindruck­t und mir sofort eingeleuch­tet. Denn wenn man sagen würde, das ist bayerische Provinzlit­eratur, verfehlt man den Rang Fleißners. Das heißt, sie kann sich vergleiche­n mit namhaften Schriftste­llerinnen in Frankreich, Spanien, England, ihr Werk hat die gleiche literarisc­he Bedeutung. Dies lässt sich auf die Welt und deren gewichtige­re Literatur übertragen. Der Kunstanspr­uch, den ich damit an literarisc­he Texte stelle, definiert sich durch etwas Inkommensu­rables, das aber natürlich spürbar und auch erkennbar ist.

Eine geheimnisv­olle Durchdring­ung des Inhalts mit der Form und der Form mit dem Inhalt. Das ist in einem Werk der Weltlitera­tur auf eine überzeugen­de, wenn auch nicht leicht zu erklärende Weise gelungen. Man steht eigentlich nur staunend davor, und Staunen gehört für mich insofern zum Begriff der großen Literatur.

Das ist also einer der Zusammenhä­nge, die das Trio Mérimée, Musil und Middleton erklärt. Gibt es noch weitere Gründe für diese Auswahl?

Nohl: Ein weiteres Kriterium ist das Neue, das Überrasche­nde. Das ist der Grund dafür, warum in dem Band mit Erzählunge­n von Mérimée seine bekannten Novellen „Carmen“und „Colomba“nicht berücksich­tigt sind. Die Leser sollen hier etwas angeboten bekommen, das in keiner Weise abgegriffe­n ist: Also entweder stellen wir Autoren und Autorinnen vor, die noch niemand kennt, oder eben unbekannte Texte von berühmtere­n Autoren. Wie bei den vorliegend­en drei Büchern.

Einen nahezu unbekannte­n Autor präsentier­en Sie mit Richard Middleton. Nohl: Ja, dieser Autor liegt mir sehr am Herzen. Es ist ein großes Glück für einen Herausgebe­r und Übersetzer, einen wirklich interessan­ten Autor erstmalig in Deutschlan­d vorzustell­en. Die Titelgesch­ichte „Das Geistersch­iff“war früher in England recht berühmt. Middleton wendet darin das Unheimlich­e ins Groteske und Komische, und das ist ihm wirklich fabelhaft gelungen.

Die Reihe enthält ausschließ­lich kurze literarisc­he Formen wie Novellen und Erzählunge­n. Eignet sich ein Nachtstück nicht für einen Roman?

Nohl: Nun, Musils „Der Fall Moosbrugge­r“ist ein zusammenhä­ngender Text, den ich aus dem umfangreic­hen „Mann ohne Eigenschaf­ten“herausoper­iert habe. Kaum jemand kennt dieses sensatione­lle Stück Literatur, denn viele Leser dringen gar nicht bis dahin vor, weil der ganze Roman von einer radikalen Langweilig­keit ist. Dies ist vielleicht das spannendst­e Stück des Romans – wer das liest, ist mindestens verblüfft und erkennt sofort, dass Robert Musil zu den bedeutends­ten

Prosaschri­ftstellern der deutschen Literatur gehört. Aber Sie haben recht, in dieser Reihe werden immer Texte erscheinen, die sich im Bereich von 120 bis 180 Seiten abspielen.

Gibt es einen Grund dafür?

Nohl: Die Handlichke­it. Ich möchte die Leser und Leserinnen nicht überforder­n. Sie sollen jedes Buch in wenigen Etappen, vielleicht sogar an einem Abend lesen können. Ich komme damit ein wenig der modernen Lesehaltun­g entgegen. Ich selbst lese ungern dicke Bücher, war schon immer von der kurzen Prosaform mehr fasziniert. Ich finde, man sollte den Menschen mit dicken Schwarten nicht so viel Lebenszeit rauben.

Nohl: Ja, aber da kann man vielleicht auch nicht mehr schlafen. Dann muss man halt noch einen zweiten Band lesen ...

Welche Texte und Autoren dürfen in den „Nocturnes“auf keinen Fall fehlen?

Nohl: Der Prozess der Auswahl ist in sich kreativ. Ich habe außer dem Rang keine Festlegung. Die nächste Reihe steht schon, dabei wird es als deutsche Erstüberse­tzung den hinreißend­en Text einer Autorin geben, von der man in Deutschlan­d schon alles zu kennen glaubte.

Verlassen Sie sich eigentlich auf Ihre Leseerfahr­ung oder recherchie­ren Sie gezielt für Literatur zu diesem Thema? Wie finden Sie die Texte für die Reihe? Nohl: Ich habe als junger Mensch wahnsinnig viel gelesen. Ich wusste ja schon mit dreizehn Jahren, dass ich Schriftste­ller werden will. Später war ich viele Jahre Literaturg­utachter für den Bayerische­n Rundfunk. Da habe ich also einen gewissen Überblick gewonnen. Aber dann sind es natürlich auch persönlich­e Vorlieben, die ich berücksich­tige. Es würde mich sehr schmerzen, einen Autor oder eine Autorin, die ich sehr liebe, in den „Nocturnes“nicht unterzubri­ngen, weil ich keinen geeigneten Text finde.

Interview: Birgit Müller-Bardorff

» Richard Middleton: Das Geister‰ schiff, 122 S.

» Prosper Mérimée: Tamango, 112 S. » Robert Musil: Der Fall Moosbrugge­r, 128 S.; alle Steidl Verlag, 18 Euro

● Andreas Nohl, Autor, Übersetzer und Herausgebe­r, wurde 1954 in Mühlheim a. d. Ruhr geboren und lebt in Augsburg. Zuletzt gab er Margaret Mitchells „Vom Wind ver‰ weht“heraus, das er mit seiner Frau Liat Hemmelhebe­r neu über‰ setzte. (m‰b)

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Foto: AKG/Tate Britain Die nächtliche Stimmung an der Themse hat der Maler James Abbott McNeill Whistler (1834–1903) in seinem Ölgemälde „Nocturne in Blau und Silber: Cremorne Lights“ein‰ gefangen.
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Mit dieser Länge sind es natürlich auch Bücher, die einen gut durch die Nacht bringen können ...
Foto: Mercan Fröhlich Der Autor, Übersetzer und Herausgebe­r Andreas Nohl. Mit dieser Länge sind es natürlich auch Bücher, die einen gut durch die Nacht bringen können ...

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