Augsburger Allgemeine (Land West)

Wofür Einzelhänd­ler trotz Corona kämpfen

Wirtschaft In Augsburg gibt es noch viele inhabergef­ührte Geschäfte, doch der zweite Lockdown setzt vielen gerade richtig zu. Sechs Augsburger Ladenbesit­zer schildern ihre Lage, beschreibe­n ihre Ängste und erzählen, wie sie trotz allem durchhalte­n wollen

- VON INA MARKS

● Michael Popp, 56 Jahre alt, Inha‰ ber des Weinhandel­s Nice2Taste in Lechhausen: Not macht erfinderis­ch Michael Popp bastelt in diesen Tagen in seinem Augsburger Laden an Weihnachts­geschenken. Zeit habe er leider momentan viel, meint der 56-Jährige trocken. Popp steht gerade oft alleine in seiner 200 Quadratmet­er großen Weinhandlu­ng in der Meraner Straße. Stunden, in denen es dann in seinem Kopf rattert, wie er sagt. Seit dem Lockdown light bleibt nicht nur die Laufkundsc­haft weg. „Wir haben sieben Gastronomi­en aus Augsburg und Friedberg, die derzeit natürlich nichts mehr bestellen.“Popp, der zuvor im Weinmarkt Vino gearbeitet hatte, hat erst im September vergangene­n Jahres sein Geschäft Nice2Taste in der Meraner Straße in Lechhausen eröffnet.

Popps neuer Laden lief, wie er sagt, gut an. „Mich kennen viele von früher, es sind auch etliche neue Kunden dazugekomm­en. Aber wenn man so jung auf dem Markt ist, baut man sich die Kundenbasi­s erst auf.“Eigentlich seien im Weinhandel November und Dezember die wichtigste­n Monate. Popp will die Hoffnung auf ein Weihnachts­geschäft nicht aufgeben. „Vielleicht machen viele Firmen statt Weihnachts­feiern ihren Mitarbeite­rn und Kunden Geschenke.“Schon im Corona-Frühjahr hatte Popp eine Art Drive-in angeboten. „Kunden können auch jetzt am Telefon bestellen, wir laden die Waren auf einen Einkaufswa­gen und bringen sie auf den Parkplatz.“Auch eine Online-Verkostung will er offerieren. Kunden bestellen sich vorab den Wein, in einem virtuellen Treffen wird dieser gemeinsam probiert. Not macht erfinderis­ch.

Popp vergleicht die Situation mit einem gebrochene­n Bein. „Man kann nichts ändern und weiß, dass man ein paar Wochen durchhalte­n muss.“Wie lange die Heilung dauert, kann freilich niemand absehen. Tendenziel­l gehe es jetzt ans Eingemacht­e, gibt der Weinhändle­r offen zu. Rücklagen habe er in der kurzen Zeit noch nicht bilden können. Finanziell­e Unterstütz­ung erhalte er von seiner Familie. „Meine größte Sorge ist, dass ich denjenigen, die meinen Traum unterstütz­en, eines Tages unter die Augen treten und sagen muss: ,Ich konnte euer Geld nicht retten.‘ Das wäre mein größter Schmerz.“

● Simone Nerdinger, 49 Jahre alt, In‰ haberin der Chocolater­ie Joh’s Becker in der Altstadt: Mit dem Fahrrad zum Kunden

Ein Leben ohne ihr kleines Schokolade­ngeschäft am Judenberg kann sich Simone Nerdinger nicht vorstellen. Doch die Sorgen, wie lange sie den Laden noch halten kann, kreisen in ihrem Kopf. Die 49-Jährige verkauft seit 30 Jahren Pralinen, Schokolade­tafeln, Bonbons und Tees, seit 20 Jahren führt sie das Geschäft selbststän­dig. Die Frau mit dem langen Zopf, die gern bunte Kleider trägt, blickt aus dem Schaufenst­er. „Normalerwe­ise sind immer viele Menschen am Judenberg unterwegs. Jetzt passiert es oft, dass draußen niemand vorbeigeht.“Mit Einführung der Maskenpfli­cht seien die Kunden ausgeblieb­en, sagt sie. Die Schließung der Gastronomi­e wenig später habe die Innenstadt noch leerer gemacht. „Dann die Worte von Eva Weber, die Innenstadt zu meiden. Auch das war schlecht fürs Geschäft. Die Menschen sind verunsiche­rt, jeder kauft nur noch das Nötigste.“Von der üblichen Laufkundsc­haft seien lediglich noch zehn Prozent unterwegs, schätzt sie.

Am Wochenende, als schönes Wetter war, hat Simone Nerdinger immerhin etliche Adventskal­ender verkauft. Doch ein gutes Wochenende allein reicht nicht. Die 49-Jährige lebt in erster Linie von ihrem Hauptgesch­äft im Winter. Die Einnahmen tragen sie jedes Jahr durch den ruhigeren Sommer. Normalerwe­ise steht sie im November und Dezember mit drei Mitarbeite­rn im Laden, jetzt schafft sie das bisschen Geschäft meist allein. Vereinzelt bestellen Stammkunde­n am Telefon. „Ich fahre die Sachen abends mit dem Fahrrad im Stadtberei­ch aus, manchmal helfen mir Freundinne­n.“Diese und ihr Partner seien für sie eine große mentale Stütze. „Sie machen mir Mut, aber die Sorgen bleiben.“

Neulich habe eine ältere Kundin ihr bei einem Einkauf 50 Euro Trinkgeld überreicht. „Sie sagte, sie will, dass mein Geschäft weitergeht“, erzählt sie gerührt. Nerdinger nahm das Geld nicht an. Sie legte es in einem Briefumsch­lag der Seniorin vor deren Haustür – zusammen mit Blumen und Süßigkeite­n.

„Es war aber so nett.“Dabei muss Simone Nerdinger kämpfen, um sich finanziell über Wasser zu halten. Seit dem Frühjahr habe sie ihre Beiträge für die Rente und die Lebensvers­icherung gestundet – bis Juni 2021. Das Geld brauche sie für den Alltag.

Der geschäftli­che Kassenstur­z steht erst nach Weihnachte­n an. „Dann weiß ich, was mir für den nächsten Sommer bleibt.“Sie hat Angst, dass es nicht reichen könnte. „Wenn ich den Laden aufgeben müsste, wäre das sehr bitter.“

● Ozan Yalcin, 29 Jahre alt, Inhaber des Braut‰ und Abendmodeg­eschäfts Merza in Oberhausen: Eigentlich ist jetzt Hochsaison

Im Geschäft von Ozan Yalcin, 29 Jahre, und seiner Frau Hilal werden manche Mädchenträ­ume war. Auf 300 Quadratmet­ern sind prächtige Abend- und Hochzeitsk­leider ausgestell­t. In dem Laden in der Ulmer Straße wird der Prinzessin­nen-Status mitverkauf­t – normalerwe­ise. Das Jahr 2020 ist das Jahr, in dem schon viele Träume zerplatzte­n. Hochzeiten wurden verschoben, Abibälle gestrichen, der Presseball entfiel. Das Ehepaar ist seit dem Frühjahr auf vielen Kleidern sitzen geblieben. Der Umsatz ist laut Ozan Yalcin um rund 50 Prozent eingebroch­en. Neue Ware habe er kaum bestellt, es lohne sich nicht.

„Ohne die Corona-Hilfe im Frühjahr hätten wir richtige Probleme bekommen“, meint er. Seit 2014 betreibt das junge Paar, das vor einigen Monaten Eltern wurde, das Geschäft. Ihre Kunden kämen aus einem Umkreis von 200 Kilometern, sogar in Österreich haben die sie Kundschaft. 50 Prozent ihrer Klienten seien Türkisch- und Arabischst­ämmige, die andere Hälfte Deutsche. In der Ulmer Straße gibt es etliche solcher Geschäfte. Die türkische Brautmoden­meile in Oberhausen ist weit über die Grenzen Augsburgs

bekannt. Drei Läden hätten derzeit geschlosse­n. „Ich weiß aber nicht, ob nur vorübergeh­end, oder ob sie ganz dicht gemacht haben.“

Die Yalcins zehren von Rücklagen, die sie in den sechs Jahren bilden konnten. Dabei planten, sie das Geld in eine Erweiterun­g zu investiere­n. „Wir haben einen Hinterhof mit 250 Quadratmet­ern. Dort wollten wir einen Showroom errichten. Es ist schade um das ersparte Geld.“Ohne Corona würden die Yalcins seit September mitten im Hauptgesch­äft stecken. Dann erst beginnt die Hauptsaiso­n für türkischen Hochzeiten, sie dauert bis in den Winter. Dieses Jahr nicht. Weil türkische Hochzeiten so pompös gefeiert werden, brauchte eine Braut oft nicht nur ein Kleid, sondern drei oder vier. Bislang haben sie im November erst ein einziges Kleid verkauft. „Das ist lächerlich. Wir hätten viel lieber geschlosse­n und 75 Prozent Unterstütz­ung, wie die Gastronomi­e und die Veranstalt­ungsbranch­e, von der wir eigentlich auch ein Teil sind.“Das Ehepaar findet: „Die Regierung muss sich was einfallen lassen.“

● Mirella De Paola, 48 Jahre alt, In‰ haberin der Boutique Catwalk Milano in der Innenstadt: Geschäft und Bera‰ tungsstell­e

„Du hast gerade Tage, an denen du nicht weißt, wie ein Mensch aussieht, der ,Grüß Gott‘ sagt“, beschreibt Mirella De Paola etwas überspitzt ihren Alltag. Es gibt Stunden, in denen keine Kundin ihre Boutique Catwalk Milano in der Steingasse betritt. In den 25 Jahren als Einzelhänd­lerin hat die 48-Jährige schon einiges gemeistert. Auch wenn sie sich oft frage, wie jetzt alles weitergehe­n soll, will sie sich nicht unterkrieg­en lassen. Die Geschäftsf­rau schaut nach vorne und verlangt auch von den Stadtpolit­ikern, dies zu tun, anstatt Panik zu verbreiten. Sie meint: „Wir wissen ja alle um die

Corona-Situation. Aber Ziel kann es doch nicht sein, die Innenstadt menschenle­er zu machen und damit ein Sterben der Einzelhänd­ler auszulösen.“Solange sich die Menschen an die Regeln hielten und der Handel die Hygienekon­zepte durchziehe, können nichts passieren. „Es geht hier auch um Eigenveran­twortung“, findet sie. De Paola weiß, dass es für viele Händler jetzt um alles geht. Gegenüber Vertretern des Wirtschaft­sreferats habe sie bereits ihr Unverständ­nis darüber geäußert, dass weiter Angst geschürt werde.

Die Frau sagt: „Wir Händler appelliere­n daran, die Menschen aufzukläre­n, dass sie verantwort­ungsbewuss­t und achtsam, aber ohne Angst, in die Innenstadt kommen.“Dass es gerade jetzt wichtig sei, Kunden auch psychisch aufzufange­n, stelle sie selbst immer wieder fest. „Man wird zu einer kleinen Beratungss­telle“, sagt sie lächelnd. „Wir versuchen, den Kunden positive Momente zu bescheren.“Die viel zitierte Forderung, der Einzelhand­el müsse sich eben online besser aufstellen, kann sie nicht mehr hören. Es macht sie sogar richtig wütend. „Viele von uns können das gar nicht. Online laufen Markenprod­ukte, am besten reduziert. Wir aber leben von dem persönlich­en Kontakt mit den Kunden, der Beratung und einer Wohlfühlat­mosphäre.“Wie es ihr persönlich gehe? „Relativ gut. Aber ich habe Freundinne­n mit Geschäften, die massive Probleme haben und psychisch wegklappen. Das macht mir am meisten zu schaffen.“

● Ina Gantenbein, 39 Jahre alt, Inha‰ berin von Kokett Dessous in der In‰ nenstadt: Ein neuer Zusammenha­lt Vor knapp zehn Jahren hat Ina Gantenbein das Dessous-Geschäft Kokett in der Philippine-Welser-Straße von ihrer Mutter übernommen. Es existiert seit über 70 Jahren, die Großmutter hat den Laden 1946 eröffnet. Gantenbein will jetzt weihnachtl­ich dekorieren. „Man muss jeden Tag nicht nur sich selbst motivieren, sondern auch die Kunden“, sagt sie. Manchmal koste das viel Kraft. „Es gibt Tage mit null Umsatz, an denen vielleicht noch eine Rechnung mit ein paar Tausend Euro hereinflat­tert. So etwas kann ich daheim schwer abschüttel­n.“

Die Auswirkung­en des Lockdown light seien verheerend. „Als ob plötzlich ein Schalter umgelegt wurde.“Trotzdem will die 39-Jährige optimistis­ch bleiben. Wenn Ina

Gantenbein der Pandemie und deren Folgen etwas Positives abgewinnen kann, dann ist das der neu gewachsene Zusammenha­lt unter einigen Einzelhänd­lern in Augsburg. „Wir überlegen uns Strategien, wie wir Kunden abholen können, haben gemeinsam Eva Weber geschriebe­n, nachdem sie dazu aufgerufen hatte, dass die Menschen der Innenstadt möglichst fernbleibe­n sollen, und tauschen uns über unsere Nöte aus.“Sie selbst habe gelernt, dass man Kunden über soziale Netzwerke wie Instagram oder Facebook erreichen kann. Täglich präsentier­t die Einzelhänd­lerin dort in Fotos oder Filmen ihre Ware.

Ina Gantenbein kontaktier­t aktiv Stammkunde­n, vereinbart Termine, fährt auf Wunsch kostenlos Unterwäsch­e zu ihren Kundinnen aus – wenn machbar – oder verschickt die Ware. In Kontakt zu bleiben, sei jetzt wichtiger als je zuvor. Besseren Kontakt wünscht sich die 39-Jährige auch zwischen Händlern und der Stadt. „Klar können wir nicht jede Entscheidu­ng gut finden, aber wir brauchen eine engere Zusammenar­beit.“Sie habe Angst, dass Augsburg eine Geistersta­dt werden könnte. „Leider weiß ich schon den ein oder anderen Einzelhänd­ler, der nächstes Jahr das Handtuch schmeißen wird.“

● Sibylle Konrad, 37 Jahre alt, Kauf‰ haus Konrad in Pfersee: Zeit zum Aus‰ probieren

Über zwei Dinge ist Sibylle Konrad in diesen Tagen froh: Ihre Familie bietet nicht nur Textilien an – und ihr Geschäft liegt nicht im Zentrum, sondern im Stadtteil Pfersee. Das Kaufhaus Konrad gibt es seit hundert Jahren. Eröffnet hatte es ursprüngli­ch 1894 in Stadtberge­n. Die 37-Jährige, ihre Schwester, der Vater und der Onkel führen das Kaufhaus. Im Bereich Mode und Wäsche verzeichne­n die Konrads, wie andere Händler auch, empfindlic­he Einbußen.

Doch ihr Geschäft profitiert vom breiteren Angebot. Im Untergesch­oß gibt es Haushalts- und Schreibwar­en, Spielzeug, Kleinelekt­ronik und weitere Bedarfsart­ikel. „Damit haben wir ein konstantes Fundament. Hilfreich ist es auch, dass wir die Post im Haus haben. Das beschert uns eine gewisse Frequenz“, sagt Sibylle Konrad.

Sie ist überzeugt, dass sich das Kaufhaus als klassische­r Nahversorg­er im Stadtteil leichter tue als ein Geschäft in der Innenstadt. Ihr Kaufhaus lebe eher von gezielten Einkäufen als vom Bummeln. Die meisten Kunden kämen aus Pfersee, Stadtberge­n und Leitershof­en. „Unser Vorteil ist, dass wir hinter dem Haus einen Parkplatz haben, und viele mit dem Fahrrad kommen können.“Seit Corona präsentier­en die Konrads ihre Waren auch auf einer eigenen Internetse­ite.

Ein Onlineshop, den sie während des ersten Lockdowns im Frühjahr ausprobier­t hatten, habe sich nicht gelohnt. „Aber über die Bilder können sich die Kunden informiere­n, was es bei uns gibt.“Bestellung­en nehmen Familie und Mitarbeite­r auch am Telefon entgegen. Hauptsächl­ich ihr Onkel habe im Frühjahr viel ausgeliefe­rt, per Fahrrad mit Anhänger. Auch jetzt sei man dazu jederzeit einsatzber­eit, so Sibylle Konrad. Die studierte Handelsfac­hwirtin findet es wichtig, vieles auszuprobi­eren. Sie sagt: „Im Nachhinein zu sagen ,Ach, hätten wir doch nur‘, das ist nicht meine Art zu arbeiten.“

 ?? Fotos: Silvio Wyszengrad ?? Die Kundenfreq­uenz in der Innenstadt hat während Corona deutlich nachgelass­en. Für die Einzelhänd­ler eine schwierige Zeit.
Fotos: Silvio Wyszengrad Die Kundenfreq­uenz in der Innenstadt hat während Corona deutlich nachgelass­en. Für die Einzelhänd­ler eine schwierige Zeit.
 ??  ?? Sibylle Konrad ist Teil eines familienge‰ führten Kaufhauses.
Sibylle Konrad ist Teil eines familienge‰ führten Kaufhauses.
 ??  ?? Michael Popp ist Inhaber eines Weinhan‰ dels in Lechhausen.
Michael Popp ist Inhaber eines Weinhan‰ dels in Lechhausen.
 ??  ?? Simone Nerdinger betreibt eine Chocola‰ terie in der Altstadt.
Simone Nerdinger betreibt eine Chocola‰ terie in der Altstadt.
 ??  ?? Ozan Yalcin und seine Frau verkaufen Hochzeitsm­ode.
Ozan Yalcin und seine Frau verkaufen Hochzeitsm­ode.
 ??  ?? Mirella De Paola ist Inhaberin der Bou‰ tique Catwalk Milano.
Mirella De Paola ist Inhaberin der Bou‰ tique Catwalk Milano.
 ??  ?? Ina Gantenbein führt ein Dessous‰Ge‰ schäft, das seit 70 Jahren besteht.
Ina Gantenbein führt ein Dessous‰Ge‰ schäft, das seit 70 Jahren besteht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany