Augsburger Allgemeine (Land West)

„Es fehlen Ansprechpa­rtner außerhalb der Kernfamili­e“

Ira Thon, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie, erklärt, wie Kinder und Jugendlich­e unter Corona leiden

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Diedorf Kein Sportverei­n, kein gemeinsame­s Musizieren, wenige Treffen mit Freunden: Die CoronaPand­emie trifft viele Kinder und Jugendlich­e hart. Nur Schule und die eigene Familie ist halt auf Dauer zu wenig. Wir sprachen mit der Kinderund Jugendpsyc­hiaterin Ira Thon über das Thema.

Wie sehr greifen die Umstände der Corona-Pandemie in die natürliche­n Entwicklun­gsphasen von Kindern und Jugendlich­en ein? Wie ist Ihre Erfahrung aus der Praxis?

Ira Thon: Die Umstände der Coronapand­emie greifen erheblich in die psychosozi­alen Entwicklun­gsbedingun­gen von Kindern und Jugendlich­en ein. Da momentan keine Treffen im Verein, Sport, Jugendgrup­pen, Jugendfeue­rwehr etc. stattfinde­n, gibt es keine Möglichkei­t, sich außerhalb der Schule sozial auszutausc­hen, eigene Stärken und Wertschätz­ung zu erleben. In meiner Praxis erlebe ich eine Zunahme von depressive­n Symptomen, generalisi­erten Ängsten und Zwängen bei meinen Patienten. Den Kindern und Jugendlich­en fehlen Ansprechpa­rtner außerhalb der Kernfamili­e. Bei schulische­n Misserfolg­en fehlt der Ausgleich durch positive Erfahrunge­n in Hobbys. Ich habe auch vermehrt Jugendlich­e mit lebensmüde­n Gedanken, denen erheblich soziale Kontakte und positive Erfahrunge­n mit Hobbys fehlen.

Suchten in den vergangene­n Monaten auch „neue“Familien Ihre Hilfe, die bisher keine Probleme hatten?

Ira Thon: Es kommen vermehrt Familien zu mir mit Kindergart­enkindern, bei denen reduzierte Betreuungs­möglichkei­ten zu erheblich vermehrtem Stresserle­ben bei den Eltern führen. Die Kinder werden nicht so intensiv sozial gefordert und gefördert wie vor Corona mit begleitend­en Förderungs­angeboten wie musikalisc­her Frühförder­ung, Kinderturn­en, Kinderschw­immen usw. Wenn bei den Eltern, die nun die Betreuung mehr selbst übernehmen müssen, nebst Förderung zu Sozialverh­alten, Kreativitä­t und Bewegung und dem eigenen Beruf, „die Nerven blank liegen“, können sie nicht so einfühlsam und ruhig auf Trotzphase­n oder Verhaltens­auffälligk­eiten der Kinder reagieren. Deshalb kommt es bei mir in der Praxis vermehrt zur Vorstellun­g von Kindern von drei bis sechs Jahren mit opposition­ellem Trotzverha­lten, aber auch mit Trennungsä­ngsten und Schlafstör­ungen.

Wie können Betroffene überhaupt den Zeitpunkt erkennen, wann es ratsam ist, für das Kind therapeuti­sche Hilfe zu suchen? Gibt es Alarmzeich­en?

Ira Thon: Das ist stark von der Persönlich­keit und dem Alter des Kindes/Jugendlich­en abhängig. Schlafoder Essstörung­en, eine Abnahme an Freude an Aktivitäte­n, die bislang Freude machten, und einen zunehmende­n Rückzug von der Familie oder aber stark anklammern­des Verhalten an die Eltern sollten hellhörig machen.

Was raten Sie Eltern, die eine Überforder­ung der Kinder durch die Schule/Homeschool­ing befürchten?

Ira Thon: Ich erlebe die Auswirkung­en der Homeschool­ing-Situation als sehr unterschie­dlich. Es gibt Kinder und Jugendlich­e, die von der reizärmere­n Umgebung zu Hause profitiere­n, anderen fehlt das soziale Miteinande­r. Und ich erlebe viele Eltern, die mit ihrem „Nebenjob“als Lehrer teilweise überforder­t sind. Kinder aus bildungsfe­rnen Familien sind definitiv noch mehr benachteil­igt als bisher. Eltern sollten das Stresserle­ben bei Kindern mit Versagensä­ngsten nicht noch schüren, indem sie über die CoronaSitu­ation klagen und Ängste äußern, das Kind könne das Klassenzie­l nicht erreichen oder Ähnliches. Leiten Sie Ihr Kind an, Prioritäte­n beim Lernen zu setzen, begrenzen Sie die Lernzeiten sinnvoll und regen Sie Bewegungsp­ausen an. Medienkons­um, vor allem Videospiel­e, behindern das Abspeicher­n von gelerntem Stoff. Lernen kann Freude machen, recherchie­ren Sie gemeinsam mit Ihrem Kind, lesen Sie vor, schauen Sie gemeinsam Lernvideos an.

Können Sie Tipps geben, wie Eltern ihren Kindern gut über die Zeit helfen können?

Ira Thon: Klagen über die Situation hilft weder Eltern noch Kindern noch verbessert es das Klima zu Hause. Gemeinsame Aktivitäte­n, Kompromiss­e finden, auch andere Aktivitäte­n als bisher, neue Hobbys finden ist hilfreich. Auch gemeinsame­s Lernen kann eine positive Erfahrung sein, wenn man nicht nur Arbeitsblä­tter abarbeitet. Natürlich begrenzt uns die Corona-Situation, sie zwingt uns aber auch, sich mehr mit uns selbst und mehr mit der engsten Familie zu beschäftig­en. Das kann auch eine Chance sein und nicht nur eine Einengung oder Belastung. Zu guter Letzt sollten Eltern sich profession­elle Hilfe holen. Seit der Corona-Pandemie bieten wir unsere Elternbera­tung/coaching kostenfrei an, um den Eltern einen geschützte­n Raum zu geben, über ihre Sorgen zu sprechen.

Zur Person: Ira Thon arbeitet als Fachärztin für Kinder‰ und Jugendpsy‰ chiatrie und ‰psychother­apie in eigener Praxis in Diedorf und behandelt dort Patienten zwischen drei und 21 Jahren.

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Ira Thon

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