Augsburger Allgemeine (Land West)

Singen aus Notwehr

Seit Jahrzehnte­n kämpft Joan Baez mit Wort und Musik gegen den neuen Wilden Westen in den USA

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(Proper) von 2018 bewundern. Angeblich? Die „Fare-TheeWell“-Tour rund um den Globus wurde 2019 verlängert (und von Corona unterbroch­en), weil das Publikum und wohl auch sie nicht loslassen können. Und weil man eine Stimme wie die ihre in Zeiten wie diesen weiter brauchen kann.

„Es wird immer behauptet, dass wir Amerikaner die Welt von Diktatur und Tyrannei befreien würden. Gleichzeit­ig treten eben diese Amerikaner permanent die Menschenre­chte mit Füßen. Wir sind auf dem besten Weg zurück in den Wilden Westen.“Diese Zeilen schrieb sie 16 Jahre, bevor Trump und sein Mob die US-Demokratie an den Rand des Untergangs führen sollten. 2018 veröffentl­ichte Baez einen Song über Trump mit dem bezeichnen­den Titel „Nasty Man“. Ein Lied aus Notwehr. Kein gutes, räumt sie ein. Aber ein notwendige­s. Es erfülle seinen Zweck, inzwischen mehr denn je. Ein Lied, das eine brennende Wunde hörbar werden ließ.

Seit den späten 1950er-Jahren singt Joan Baez gegen den Wilden Westen des Rassismus, gegen Entdemokra­tisierung, gegen Populismus. Sie galt als das erste Covergirl einer Generation, die sich die Selbstbest­immung zum Ziel setzte. Jetzt, fast zeitgleich zu ihrem runden Geburtstag, erleben die USA eine Welle der Zerrissenh­eit und des politische­n Irrlichter­ns. Am Lincoln Memorial, gegenüber des Capitols, das am Mittwoch der Trump-Mob stürmte, begann die Popularitä­t der Joan Baez. Im August 1963 blickte die damals 22-Jährige schüchtern auf eine riesige Masse von 300000 Menschen, die zum „March on Washington“gekommen waren. Mit ihrer zarten Stimme sang sie davon, dass sie keine Angst habe, tief im Herzen fühle, dass Unrecht überwunden werden könne: „We Shall Overcome“. Das Lied von Pete Seeger wurde an diesem Tag zur Hymne der Friedensbe­wegung und des jungen, modernen Amerika.

Seither positionie­rt sich Joan Baez vehement gegen Hass, Unterdrück­ung, Gewalt, Kriege. Sie protestier­te vor Gefängniss­en und musste wegen ihrer Anti-Kriegsprop­aganda 1967 selbst für einen Monat hinter Gitter. „Die heilige Johanna mit der Gitarre“, wie sie Wolf Biermann einmal bei einem gemeinsame­n Konzert in Ostberlin nannte, marschiert­e mit Martin Luther King, half dem noch unbekannte­n Bob Dylan beim Karrierest­art, mischte sich unter die westdeutsc­he Friedensbe­wegung, trat in Woodstock auf und eröffnete den US-Teil von Live Aid. Joan Baez gilt längst als essenziell­er Teil der Popgeschic­hte.

Ihre Waffe in Form ihrer Songs verliert jedoch immer mehr an Durchschla­gskraft. Im Orkan des Schreiens und chronische­n SichÜberhö­rens kann sich solch eine zarte Stimme nur noch schwer durchsetze­n. Die Popmusik, erst recht Folk, haben im gesellscha­ftlichen Diskurs an Einfluss verloren. „Der Idealismus der frühen Tage ist einem gewissen Frust gewichen – vielleicht sollte ich aber nicht Frust sagen, sondern Realismus.“

Trotzdem: Erreicht hat Joan Baez mehr als die allermeist­en aus ihrer Branche. Auch wenn die Welt durch sie nur ein kleines Quäntchen besser geworden ist.

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Foto: Ralf Lienert Joan Baez 2019 Jahr bei ihrem Auftritt in Füssen.

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