Augsburger Allgemeine (Land West)

Auch ohne Besuch: Intensives Theatersch­auen

Folge zwei von „W – eine Stadt sucht ihre Wohnung“sprengt die Ketten der analogen Bühne. Unterhalts­am, fordernd, politisch

- VON STEFANIE SCHOENE

Das Denkmalvie­rtel wurde abgerissen. Statt zu sanieren, hat der Investor Shark Trust Tabula rasa gemacht. 10000 Wohnungen fehlen jetzt in Adelma. Architekti­n Laura (Friederike Pasch), die die Sanierung hätte umsetzen sollen, leidet unter Albträumen, Stress und einem schlechten Gewissen. Ihre Freundin Emma ist während des Dramas verschwund­en, und ihre andere Freundin Yolanda hatte eine der jetzt abgerissen­en Wohnungen gekauft. Auch das Rätsel der tausenden anderen Verschwund­enen aus dieser Stadt scheint irgendwie mit dem Wohnungsma­ngel und dem Investor zu tun zu haben.

„W – eine Stadt sucht ihre Wohnung“, das Fortsetzun­gsdrama um

Laura und die Stadt Adelma, ist ein innovative­s, ausschließ­lich für ein Online-Publikum produziert­es Stück, dessen Herstellun­g in der gesamten deutschen Theaterlan­dschaft Beachtung findet. Regisseur Nicola Bremer, der dieses Neuland für das Staatsthea­ter Augsburg bearbeitet, gilt als innovative­r Fachmann, der bereits für radikale Beteiligun­gsformate bekannt ist. Dass das Stück damit just in time auch coronakomp­atibel ist, ist eher ein Nebeneffek­t. Denn laut Staatsthea­ter soll die Entwicklun­g künstleris­cher Formen für ein Online-Publikum nicht nur einfach Analoges in Digitales umwandeln und streamen, sondern mit neuen Mitteln zu einer eigenen Sparte des Hauses ausgebaut werden.

Regisseur Bremer leistet ganze

Arbeit. Schon in der ersten Folge des Adelma-Wohndramas im November erhielt das Stück, das auf einer Probebühne im Martinipar­k gespielt wird, viel Zulauf. Auch in der

Regisseur Nicola Bremer trägt eine Fish‰ eye‰Kamera vor sich und ist die ganze Zeit über sichtbar. aktuellen, noch bis Sonntag laufenden Folge ist die Premiere nicht etwa irgendeine Momentaufn­ahme, sondern dauert den gesamten Produktion­sprozess über viele Stunden und mehrere Tage an.

Zudem ist sie interaktiv, weil Zuschauer während der Liveproben Einwürfe machen und den Spielverla­uf dadurch steuern können. Wichtigste Gadgets des Formats sind die drei mobilen Online-Kameras, die das Geschehen auf der Bühne im Martinipar­k filmen, und eine Fisheye-Kamera auf dem Kopf des Regisseurs. Diese überträgt jede Gesichtsve­rzerrung des Regisseurs live auf einer Kachel im rechten unteren Sechstel der Zuschauerb­ildschirme.

Der Livestream läuft über den Kanal Twitch, für den man sich unkomplizi­ert und kostenfrei beim

Staatsthea­ter anmelden kann. Normalerwe­ise streamen auf diesem Kanal Computersp­ieler für ihr digitales Publikum. Das Staatsthea­ter Augsburg bewegt sich dort auf neuem Terrain.

Für das Schreiben von Folge zwei begab sich Autor Bremer zunächst samt Fisheye-Kamera in eine Art Online-Isolation, wo er mit beteiligte­n W-Fans chattete und deren Einfälle zum Thema Wohnen in der Stadt dokumentie­rte. Herausgeko­mmen ist eine bisweilen turbulente, auf jeden Fall unterhalts­ame Mischung aus Komödie, Drama und Politkrimi. Maurice, Chef von Shark Trust (Thomas Prazak), will jetzt Hochhäuser auf den Trümmern des alten Viertels errichten und erteilt Laura einen neuen Auftrag. Auf der Zeitachse steht außerdem ein Kommunalwa­hlkampf

zwischen dem Bürgermeis­ter ohne Namen (Anatol Käbisch) und einem Ghetto-Youtube-Blogger (Florian Gerteis) an, bei dem einer der beiden zugunsten der Wohnungsma­fia in Adelma sterben muss. Zuschauer unter den Namen „Schneckens­chubse“und „keinepanik­galaxy“stellen in Echtzeit über den betreuten Chat Belobigung­en der Darsteller aus. Bejubelt wurde das intensiv-sprudelnde Nicht-Italienisc­h von Käbisch und die überrasche­nde Stunt-Akrobatik des sterbenden Bloggers – da erübrigt sich an dieser Stelle das analoge Lob der Rezensenti­n.

Weitere Aufführung­en sind über staatsthea­ter‰augsburg.de auf twitch.tv am Samstag und Sonntag je‰ weils von 19 bis 22 Uhr zu verfolgen.

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Foto: Jan‰Pieter Fuhr

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