Augsburger Allgemeine (Land West)
„Die Menschen sind nicht intelligenter geworden“
Der Erfolgsautor Robert Harris legt einen Weltkriegsroman nach. Es geht um die V2-Rakete der Nazis – und doch auch um Erfahrungen der Pandemie und die Frage nach dem geschichtlichen Fortschritt
Weshalb hatten Sie denn jetzt noch einmal Lust, sich der Ära noch einmal zu widmen?
Harris: Die Idee entstand 2016, nach dem Brexit-Referendum. Ich fand es wichtig, die Leute daran zu erinnern, dass vor nicht so langer Zeit ein Staat vom Territorium eines zweiten Staats Raketen auf einen dritten abschoss. Es besteht die Gefahr, dass man den Frieden und Wohlstand, den wir seither genossen haben, als selbstverständlich betrachtet. Allerdings verfolge ich mit meinen Büchern keine moralische Mission. Ich erzähle diese Geschichten, weil ich sie faszinierend finde.
Glauben Sie denn, dass die Pandemie ähnliche Umwälzungen anstoßen kann wie der Zweite Weltkrieg?
Harris: Die Auswirkungen werden meines Erachtens enorm sein. Es gibt natürlich den entscheidenden Unterschied, dass keine Infrastruktur zerstört wird wie im Krieg. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn das unser Wirtschaftssystem, unsere Gesellschaft und Psychologie tiefgreifend beeinflusst. Die Art und Weise, wie wir mit anderen Menschen umgehen, mag sich ändern. Die Zeit des Händeschüttelns und der Umarmungen wird vielleicht vorbei sein.
Sie hatten ja bislang schon eine Vorliebe für Gesellschaften in Bedrohungssituationen …
Harris: In der Tat, die Pandemie passt in das Weltbild, das ich schon vorher hatte. Die meisten meiner Bücher beschäftigen sich mit der Fragilität unserer Zivilisation und Gesellschaft. Das ist ja auch der
STEFAN DOSCH
Grund, weshalb ich über Deutschland und den Krieg, die Zerstörung Pompejis oder das Ende der römischen Republik geschrieben habe. Mit „Der zweite Schlaf“habe ich die apokalyptische Vision einer dystopischen Welt entworfen. Ich werde von der Vorstellung, dass unsere sichere Wohlstandsgesellschaft der letzten 60 Jahre zu Ende sein könnte, regelrecht heimgesucht.
Das heißt, Sie sind ein Geschichtspessimist?
Harris: Für mich ist das einfach eine Grundbedingung unseres Daseins. Geschichte folgt einem organischen Rhythmus. Es gibt Zerfall und Zerstörung, und daraus entsteht etwas Neues. Das Problem ist nur, dass das, was wir verloren haben, nicht so schnell zurückkehrt. Nehmen Sie das Ende des demokratischen Experiments der römischen Republik. Es dauerte viele Jahrhunderte, bis es eine neue Form der Demokratie gab. Und ich befürchte, wir bewegen uns in eine neue Ära, in der die Demokratie nicht mehr so funktioniert.
Woran liegt das?
Harris: An den sozialen Medien, die keine Ära der Aufklärung, sondern eine neue Epoche des Aberglaubens eingeleitet haben. Wer hätte das ahnen können? Man hätte doch denken sollen, dass ein Gerät, das einem das gesamte Wissen der Welt zur Verfügung stellt, uns alle klüger macht.
Statt dessen scheinen wir alle viel dümmer geworden zu sein. Ich habe nichts dagegen, wenn jemand seiner persönlichen Verschwörungstheorie frönen will. Soll er nur. In einer Demokratie hat jeder ein Recht auf seine eigene Meinung. Aber das Problem ist nur, dass das wiederum die
Demokratie untergräbt. Denn die gründet sich auf den Glauben, dass die Menge ihre eigene Weisheit besitzt.
Andererseits gibt es verschiedenste Studien, die nachweisen, wie viel sicherer und besser das Leben im Lauf der Zeit geworden ist…
Harris: Natürlich gibt es Fortschritt. Wir leben in einer gesünderen, wohlhabenderen Gesellschaft, die beispielsweise Zugang zu sauberem Wasser und guter Gesundheitsversorgung hat. Allerdings denke ich nicht, dass die Menschheit intelligenter geworden ist. Ich weiß von keinem Politiker, der klüger wäre als Cicero. Unsere Architektur ist nicht besser als die römische. Das heißt, der Fortschritt spielt sich auf der technologischen Ebene ab, aber Mensch bleibt Mensch. Ich glaube nicht an eine aufgeklärtere Zukunft. Da bewegt sich nichts stringent vorwärts. Wie hätte es sonst die unvorstellbare Barbarei des Zweiten Weltkriegs geben können?
Andererseits gibt es doch unbestreitbar positive Tendenzen – man nehme die Gleichberechtigung der Geschlechter,
Obwohl die Buchverkäufe zurückgehen.
Harris: Das ist nicht ganz richtig. Zumindest bei uns in England sind während der Pandemie die Verkaufszahlen nach oben gegangen. Das Verlagsgewerbe war nicht vom ersten Lockdown betroffen. Natürlich spielen Bücher nicht mehr die gleiche zentrale Rolle in unserer Kultur. Diese Funktion haben jetzt Fernsehserien übernommen. Wir befinden uns ja nicht mehr im 19. Jahrhundert. Aber ich denke nicht, dass der Roman sterben wird.
Und was für Geschichten werden Sie nach der Pandemie erzählen?
Harris: Dazu müsste ich erst einmal wissen, wie die Geschichte, in der wir uns gerade befinden, enden wird. Wenn große Konflikte ausbrachen, ob der Erste oder Zweite Weltkrieg, hieß es immer: „Das wird Weihnachten vorbei sein.“Und ähnlich ist es jetzt. Alles ist im Fluss, und es ist unmöglich, diese Erfahrung jetzt schon geistig zu erfassen. Denn derzeit fühlt sich alles noch absurd an. Ich habe akut nur eine Antwort: Ich schreibe lieber Bücher, die in der Vergangenheit spielen. Denn die veralten nie.