Augsburger Allgemeine (Land West)
Dieses Schuljahr braucht eigene Regeln
Distanzunterricht über Wochen gab es vor Corona noch nie. Noten sagen weniger aus denn je. Deshalb sollten Eltern und Schüler selbst mehr entscheiden dürfen
Corona-Jahrgänge, dieser Begriff hat sich etabliert für Schüler, die in Zeiten des Virus ihren Abschluss machen. Mal wird der Name einfach als Tatsache verwendet, mal als etwas, das es unbedingt zu verhindern gilt: nämlich Absolventen, deren Zukunftschancen Corona beeinträchtigt.
Wir sprechen von Schülern, die Unterricht erleben, wie ihn keiner vorher kannte: Distanzlernen – ohne den Lehrer, den man immer alles fragen kann. Schule über ruckelnde Video- und Lernplattformen, selbstgemachte Stundenpläne. Eine Jahrhundert-Umstellung, so bezeichnete das alles jüngst Bayerns Kultusminister Michael Piazolo. Aber eine Jahrhundert-Umstellung kann man nicht meistern, indem man wo immer es geht am Alten festhält. Dieses Schuljahr muss anders bewertet werden als die Zeiten vor Corona – im wahrsten Sinne des Wortes. Bayern sollte seine Leistungstests den Corona-Lernbedingungen anpassen. Vor allem Schüler, die an Übergängen stehen – etwa vor dem Wechsel auf eine weiterführende Schule oder vor dem Start ins Berufs- und Studentenleben –, dürfen keine Nachteile erleiden. Es ist schon Pech genug, für die Zukunft lernen zu müssen, während die Zukunftsangst so vieles beherrscht.
Je länger die Klassenräume leer bleiben, desto wichtiger wird es, an den Bedingungen zu schrauben. Bei den Grundschulen geht es schon los: Jetzt ist der richtige Moment, über den Elternwillen beim Übertritt nachzudenken. In Bayern ist er ein Tabu-Wort, in anderen Bundesländern längst praktiziert. Wo der Elternwille zählt, entscheiden Mütter und Väter, auf welcher Schulart ihr Kind am besten aufgehoben ist – natürlich beraten vom Lehrer. Im Freistaat definieren das in erster Linie Noten. Bayerns Bildungspolitik hängt so sehr am Notenschnitt als Eintrittskarte für Mittelschule, Realschule oder Gymnasium,
als wäre er Gesetz seit Urzeiten. Aber: Jahrhundert-Umstellungen erfordern, bleibt man im Bild des Ministers, JahrhundertEntscheidungen.
Wie hoch ist schon die Aussagekraft von Noten, wenn es keinen einheitlichen Unterricht gibt, auf dem sie basieren? Der Kultusminister hat zwar die Zahl der Proben vor dem Übertritt reduziert. Aber der Druck steigt ja eher, wenn plötzlich jede einzelne Probe mehr zählt. Eltern, die Tag für Tag daheim mit ihren Kindern lernen, wissen am besten, ob der Ausrutscher in Mathe dem Corona-Stress geschuldet war oder die Stärken des Nachwuchses auch ohne das Virus einfach woanders liegen.
Ähnlich ist es bei den Abschlussprüfungen. Die Schüler brauchen Spielräume – sowohl die Abschlussjahrgänge als auch die, die gerade in ihrem vorletzten Schuljahr das Virus zu spüren bekommen. Berlin und Brandenburg haben jetzt angekündigt, dass Schulen für die Abiturprüfungen mehr Aufgaben zur Auswahl bekommen als sonst. Lehrer sollen dann entscheiden, welche Inhalte im Distanzunterricht intensiv vermittelt wurden und welche Aufgaben dazu passen. Eine gute Idee – auch für Bayern. Keiner will, dass die Qualität leidet. Keiner will ein „Notabitur“mit Minimalanforderungen. Das gab es zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Mancher spricht zwar vom Krieg gegen Corona, aber es wäre eine Schande, die Situation der Schüler heute und damals zu vergleichen.
Für Kinder und Jugendliche ist es wichtig, ihren Schulalltag zu entstressen. Dieser Satz gehört fest zum Repertoire des Ministerpräsidenten. Gerade diskutiert Kultusminister Piazolo mit Vertretern der Schulen, wie man das Stresslevel senken könnte. Sie sollten sich in der Annahme austauschen, dass uns der Lockdown wohl bleibt. Denn ja, Corona ist eine Jahrhundert-Herausforderung, auch an Schulen.
Söder will Schule entstressen – richtig so