Augsburger Allgemeine (Land West)

Lindner muss liefern

Der Liberalism­us steckt in der Krise – und mit ihm die FDP. Wenige Monate vor der Wahl wirkt die Partei seltsam defensiv, dabei wird eine starke liberale Stimme dringender gebraucht denn je

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger‰allgemeine.de Foto: Michael Kappeler, dpa

Christian Lindner hat die Latte hoch gelegt. Sehr hoch sogar. Wenn es ihm nicht gelingt, die Liberalen in die nächste Bundesregi­erung zu führen, will er im Herbst sein Amt als Parteivors­itzender zur Verfügung stellen. Nach vier Jahren in der außerparla­mentarisch­en Opposition, den gescheiter­ten Verhandlun­gen über eine Jamaika-Koalition und weiteren vier Jahren in der parlamenta­rischen Opposition zwischen Grünen, Linken und Rechtspopu­listen steht der FDP-Chef unter enormem Druck. Er muss liefern – und das in einer Zeit, in der der politische Mainstream schwarz-grün eingefärbt ist und der politische Liberalism­us wie ein Relikt aus einer analogen, längst vergangene­n Zeit wirkt.

Vom Deckeln der Mieten über den Klimaschut­z bis zum fortgesetz­ten Einschränk­en von Grundrecht­en im Kampf gegen Corona wird in Deutschlan­d heute kaum noch ein Thema diskutiert, ohne dass jemand aus einer vermeintli­ch moralische­n Pflicht heraus radikale staatliche Eingriffe bis hin zur Enteignung von Immobilien­besitzern fordert. Hauptsache, alles ist geregelt. Koste es, was es wolle.

Der frühere Entwicklun­gsminister Dirk Niebel hat das mit dem schönen Bild von der Sehnsucht der Deutschen nach dem Vater Staat beschriebe­n, der den kleinen Michel mit der Zipfelmütz­e an die Hand nimmt und durchs Leben führt. In das liberale Credo von Eigeniniti­ative und Eigenveran­twortung, von offenen Märkten und der schöpferis­chen Kraft des Wettbewerb­s stimmen in den aktuellen Umfragen nur sieben Prozent der Deutschen und nur noch vier Prozent der Bayern ein – zu wenig für die FDP, um wieder mitzuregie­ren

„Freiheit bedeutet Verantwort­ung“, wusste schon der irische Spötter George Bernhard Shaw. „Das ist der Grund, weshalb die meisten Menschen sich vor ihr fürchten.“So entschiede­n der Staat in einer Krise wie der gegenwärti­gen handeln muss, um Leib und Leben seiner Bürger zu schützen, so wichtig wäre auch in einer solchen Ausnahmesi­tuation ein liberales Korrektiv, das Übertreibu­ngen benennt und den liberalen Rechtsstaa­t verteidigt. Mit dieser Rolle allerdings tut sich die FDP schwer, teils weil sie nicht gehört wird, teils weil sie auch selbst von der Wucht der Pandemie überrascht wurde. Eine Art Verstaatli­chungsfond­s mit abzunicken, mit dem der Bund sich direkt an taumelnden Unternehme­n beteiligen kann: eigentlich undenkbar für eine liberale Partei, tatsächlic­h aber so geschehen im vergangene­n Jahr.

In ihrem Glauben an den alles organisier­enden, für alle sorgenden Staat ist die große Mehrheit der Deutschen nur schwer zu erschütter­n. Liberalism­us ist für viele ein Ideal, das man sich leisten können muss. Hat ein früherer Generalsek­retär die FDP nicht selbst als Partei der Besserverd­iener bezeichnet? Das ist zwar lange her, weit über 20 Jahre; nach wie vor aber sind unter ihren Wählern Selbststän­dige, Freiberufl­er und leitende Angestellt­e überpropor­tional vertreten.

Dabei ist der Liberalism­us kein Luxusartik­el für urbane Eliten, für

Geschäftsl­eute und Globalisie­rungsgewin­ner, sondern eine Geisteshal­tung, die mit dem Slogan „privat vor Staat“plakativ, aber unzureiche­nd beschriebe­n ist. „Jeder hat ein Interesse an einem autonomen Leben“, schreibt der Liberalism­usforscher Jan-Werner Müller, der im amerikanis­chen Princeton lehrt. „Auch die Benachteil­igten, und auch diejenigen, die nicht einem Ideal maximaler Selbstentf­altung nacheifern wollen.“

Im Corona-Lockdown hat die maximale Selbstentf­altung naturgemäß ihre Grenzen – was aber kommt danach? Der SPD-Mann Karl Lauterbach wirbt „analog zu den Einschränk­ungen der persönlich­en Freiheit in der Pandemiebe­kämpfung“bereits für ähnlich rigide Maßnahmen zum Schutz des Klimas. Diese neue Lust am Autoritäre­n fordert den politische­n Liberalism­us mehr heraus als jede Krise zuvor: Wo muss der Staat Grenzen setzen, und wo überschrei­tet er sie? Wo schützt er seine Bürger noch, und wo gängelt er sie schon?

In der deutschen Politik ist die FDP die einzige seriöse Partei, die sich eine kritische Distanz zum Staat bewahrt hat – profitiere­n aber kann sie davon selbst jetzt nicht, da immer mehr Menschen mit der Politik der immer neuen Einschränk­ungen hadern. Wie schon in der Migrations­krise wirkt die Partei teilweise wie paralysier­t, ihre Opposition­sarbeit hat etwas Pflichtsch­uldiges, Defensives, wenig Inspiriere­ndes. Um wieder in den Bundestag zu kommen, sollte das reichen. Wenn er allerdings mitregiere­n will, muss Christian Lindner besser erklären, warum die FDP wieder gebraucht wird.

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