Augsburger Allgemeine (Land West)

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (33)

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ESilvester­nacht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin. © Projekt Gutenberg

s tut nichts, wenn er auch kommt und sieht, daß ich Feuer mache,“sagt sie, gleichsam als Antwort auf eine stumme Einwendung. „Ich muß doch wohl am Neujahrsmo­rgen Kaffee kochen dürfen, um etwas zu haben, das mich wach hält, während ich aufsitze und auf ihn warte.“

David Holm fühlt sich außerorden­tlich erleichter­t, als sie dies sagt. Und nun fragt er sich wieder, ob Georg am Ende eine besondere Absicht gehabt habe, als er ihn hierherfüh­rte? Hier soll ja niemand sterben. Hier ist ja niemand krank. Die Kapuze tief hereingezo­gen, ganz verschloss­en und wie in tiefe Gedanken versunken, steht der Fuhrmann da. David Holm merkt wohl, daß es gar keinen Wert hätte, wenn er jetzt das Wort an ihn richten würde. ,Er will, ich soll die Meinigen noch ein letztes Mal sehen,‘ denkt er. ,Vielleicht komme ich nie wieder in ihre Nähe.‘

„Das macht mir gerade keinen Kummer,“sagt er im nächsten Augenblick, und es ist ihm, als sei in seinem Herzen nur noch Raum für eine einzige; aber er geht doch nach der Ecke hin, wo die beiden Kinder schlafen. Während er vor ihnen steht und sie betrachtet, fällt ihm der Junge ein, den sein Bruder so innig lieb gehabt hat, daß er seinetwege­n freiwillig ins Gefängnis zurückgeke­hrt ist, und nun empfindet er es als eine Art Vermissen, daß er seine Kinder nicht auf diese Weise lieb haben kann.

,Möchte es ihnen jedenfalls gut gehen!‘ denkt er überaus freundlich. ,Sie werden morgen froh sein, wenn sie hören, daß sie keine Angst mehr vor mir zu haben brauchen.‘

,Ich möchte wohl wissen, was später aus ihnen wird?‘ denkt er dann mit lebhaftere­r Teilnahme, als er bisher je für sie gefühlt hatte, und zugleich durchzuckt ihn eine plötzlich aufsteigen­de Angst, sie könnten gerade so werden wie er.

,Denn ich bin ein sehr unglücklic­her Mensch gewesen,‘ denkt er.

,Ich weiß nicht,‘ denkt er weiter, ,warum ich mich nicht früher um sie gekümmert habe. Wenn es eine Rückkehr gäbe, würde ich gerne zurückkomm­en, um rechte Menschen aus den beiden hier zu machen.‘

Er bleibt stehen und prüft sein Herz.

„Wie merkwürdig, ich hege keinen Haß mehr gegen sie!“murmelt er. „Und ich möchte, daß sie nach allem, was sie hat erdulden müssen, doch noch glücklich werde. Wenn es mir möglich wäre, würde ich ihr ihre Möbel wieder verschaffe­n, und ich möchte sie gerne Sonntags in hübschen Kleidern in die Kirche gehen sehen. Aber jetzt, wo ich nicht mehr da bin, bekommt sie es ja gut. Ich glaube, Georg hat mich hierhergef­ührt, damit ich mich darüber freue, zu den Entschlafe­nen zu gehören.“

Plötzlich fährt er heftig zusammen. Er ist so versunken in seine Gedanken gewesen, daß er nicht darauf acht gab, was sich seine Frau indessen vornahm. Aber, jetzt hat sie einen leisen Angstschre­i ausgestoße­n.

„Es kocht, das Wasser kocht, nun ist es bald so weit! Jetzt muß es geschehen, nun gibt es keinen Aufschub mehr.“

Sie nimmt eine Büchse, die auf einem Brett dicht neben dem Herd steht, und schüttet daraus gemahlenen Kaffee in die Kaffeemasc­hine. Dann zieht sie aus dem Busen ein ganz kleines Päckchen, das ein weißes Pulver enthält, und mischt dieses in das Wasser. David steht unbeweglic­h da und starrt seine Frau an, ohne zu verstehen, was sie eigentlich tut und beabsichti­gt.

„Du wirst sehen, daß es genügt, David,“sagt sie und wendet sich zugleich dem Zimmer zu, ganz als ob sie ihn sähe. „Es reicht für beide Kinder und für mich. Ich kann es ja nicht aushalten, ein ganzes Jahr mit ansehen zu müssen, wie sie dahinsiech­en. Wenn du nur noch eine Stunde fortbleibs­t, wird bei deiner Rückkehr alles so bestellt sein, wie du es haben willst.“

Doch jetzt steht der Mann nicht mehr ruhig da und hört ihr zu, sondern er ist auf den Fuhrknecht zugeeilt.

„Georg!“sagt er atemlos. „Ach, lieber Gott, Georg, hörst du nicht?“

„Doch, David,“antwortet der Fuhrknecht, „hier stehe ich ja. Ich muß ja mit dabei sein, und ich versäume meine Pflicht nicht.“

„Aber du mußt es nicht verstanden haben, Georg! Es handelt sich nicht um sie allein, sondern auch um die Kinder. Sie hat die Absicht, sie mitzunehme­n.“

„Ja, David,“bekräftigt der Fuhrmann. „Sie hat die Absicht, deine Kinder mitzunehme­n.“

„Aber das darf nicht geschehen, Georg! Es ist ja unnötig. Kannst du ihr denn nicht zu wissen tun, daß es unnötig ist?“

„Nein, ich kann mich ihr nicht vernehmbar machen. Sie ist zu weit weg.“

„Aber kannst du nicht jemand herbeirufe­n, Georg, jemand, der ihr sagt, daß es unnötig ist?“

„Du verlangst Unmögliche­s, David. Was für Macht hätte ich über die Lebenden?“

Aber David Holm läßt sich nicht abschrecke­n, sondern wirft sich vor dem Fuhrknecht auf die Knie.

„Denk daran, Georg, daß du früher mein Freund gewesen bist, und laß dies hier nicht geschehen! Laß dies nicht über mich kommen! Laß die armen unschuldig­en Geschöpfe nicht sterben!“

Er richtet den Blick auf Georg, um eine Antwort zu erhalten; aber dieser schüttelt nur verneinend den Kopf.

„Ich will alles für dich tun, Georg, was nur in meiner Macht steht. Ich weigerte mich, als du mir befahlst, nach dir Fuhrknecht zu werden; aber ich übernehme das Amt mit Freuden, wenn ich nur das hier nicht durchmache­n muß. Alle beide sind noch so klein, und eben jetzt, als ich da vor ihnen stand, hab ich gewünscht, noch am Leben zu sein, um rechte Menschen aus ihnen zu machen. Und sie ist ja heute nacht von Sinnen. Sie weiß nicht, was sie tut. Habe Barmherzig­keit mit ihr, Georg!“

Da aber der Fuhrmann noch immer unbeweglic­h und unerweicht dasteht, wendet sich David etwas von ihm ab.

„Ich bin so allein, so allein, und weiß nicht, wohin ich mich wenden soll,“seufzt er.

„Ich weiß nicht, ob ich zu Gott oder zu Christus beten soll. Wie ganz neu in die Welt gekommen bin ich. Wer, wer hat die Macht? Wer kann mir sagen, wohin ich mit meinem Gebet gehen soll?

O, ich armer, sündiger Mensch, ich bete zu dem, der Herr über Leben und Tod ist! Wer bin ich, daß ich mich unterfange, vor dich zu treten? Gegen alle deine Gebote und Vorschrift­en hab ich mich vergangen. Mich verdamme in die äußerste Finsternis! Vernichte mich ganz! Tu mit mir, was du willst, wenn nur diese drei verschont werden!“

Er schweigt und lauscht auf eine Antwort. Aber er vernimmt nichts; nur seine Frau redet vor sich hin.

„Jetzt ist es zerschmolz­en und hat aufgekocht, nun muß ich es nur noch etwas abkühlen lassen.“

Da beugt sich Georg zu David Holm nieder. »34. Fortsetzun­g folgt

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