Augsburger Allgemeine (Land West)
Der Katastrophe erster Teil
Ende Januar 2020 infiziert sich ein Mann aus Kaufering mit dem Coronavirus. Er arbeitet bei einem Automobilzulieferer in Stockdorf. Wie das die Gemeinden verändert hat, Bayern zur Krisenregion wurde und wie „Patient 1“heute mit der historischen Diagnose l
Stockdorf/Kaufering In Stockdorf ist das Virus schon angekommen, da hat es noch nicht mal einen Namen. Es ist Ende Januar 2020, an jedem Tisch im Konditorei-Café Harter sitzen Journalisten. Ihre Finger fliegen über die Laptops, stark geschminkte Moderatorinnen üben ihre Sätze für die Nachrichten, Kameraleute nutzen das Café im Zentrum des Münchner Vororts als Wärmestube nach Stunden in der Kälte. Die Konditorei Harter gibt es seit 1905, doch so einen Auflauf hat sie noch nicht erlebt. Aber in Stockdorf, einem Ortsteil von Gauting, ist vorher auch noch nie eine Pandemie ausgebrochen. Über Konditor Ludwig Harter schreibt damals sogar die New York Times.
Ein paar hundert Meter die viel befahrene Gautinger Straße hinunter steht der Hauptsitz des Automobilzulieferers Webasto, komplett verglast, eins der größten Gebäude in dem 4000-Einwohner-Ort. In der Weltwirtschaft kennt man das Unternehmen als Spezialist für Schiebedächer. Für Laien ist es die Corona-Firma. Der Arbeitsplatz des Patienten Nummer 1, positiv getestet am 27. Januar 2020. Wie damals schnell bekannt wird, stammt er aus Kaufering im Kreis Landsberg. Am Ende werden 16 Webasto-Mitarbeiter und Angehörige infiziert sein, angesteckt von einer Kollegin aus dem chinesischen Wuhan, die ihre Müdigkeit und Erschöpfung dem Jetlag nach ihrem langen Flug zugeschrieben hatte. Ein Irrtum.
Nicht nur wegen Corona, aber auch deswegen, schreibt Webasto 2020 rote Zahlen. Die bayerischen Infektionszahlen sind lange sogar dunkelrot. Seit Beginn der Pandemie gehört der Freistaat zu den Bundesländern mit dem höchsten Inzidenzwert. Stieg die Zahl der Infektionen in ganz Deutschland, stieg sie in Bayern oft noch schneller. Die Gründe dafür sind bis heute nicht ganz erforscht. Fakt ist: In Bayern hatte das Virus schlicht einen Vorsprung, bevor es sich in anderen Bundesländern einschlich. Noch dazu hat Bayern lange Außengrenzen, nirgendwohin pendeln so viele Arbeitnehmer aus Nachbarländern. Mehr als 10200 Menschen sind bis heute an dem Virus gestorben, fast 400 000 haben sich angesteckt – und in Stockdorf fing alles an.
Am 31. Januar infiziert sich dann erstmals ein Mensch außerhalb der Webasto-Zentrale. Es ist das Kind eines Mitarbeiters. Sechs Wochen später hat jedes Bundesland seine ersten Corona-Fälle. Die Zahlen gehen hoch – vor allem in Bayern. Ministerpräsident Markus Söder verkündet am 16. März den ersten Lockdown. Der Rest ist bekannt.
Konditor Ludwig Harter, schwarzes Haar, weiße Kochjacke, erinnert sich noch gut, wie die Angst die Stockdorfer erfasste. Ihre Furcht verbreitet sich damals schneller als das Virus. „Das war brutal, das war eklatant“, erzählt er. „Innerhalb eines Tages haben wir 50 Prozent weniger Umsatz gemacht. Die Leute haben sich nicht mehr aus dem Haus getraut.“Zwei, drei Wochen dauert dieser „Anfangsschock“. Die Parkplätze für die 1000 Webasto-Mitarbeiter in Stockdorf, die fast den ganzen Ortseingang pflastern, bleiben damals so gut wie leer. Das Unternehmen schließt seine Zentrale vorübergehend.
„Das hätte ich nie gedacht“– kein Satz fällt öfter, wenn man heute mit den Menschen in Stockdorf spricht. Der Tankstellenbesitzer gleich neben der Webasto-Zentrale sagt das. Vor einem Jahr scherzt er noch mit seinen Kunden über das Virus, heute steht er hinter einer Plexiglasscheibe, und neben dem Kühlschrank mit den Wurstsemmeln lagert das Desinfektionsmittel.
Ludwig Harter, dessen Café jetzt im Dunkeln liegt, die Stühle auf den Tischen, sagt dasselbe. „Ich dachte, die Sache mit dem Virus läuft sich irgendwann tot. Dass wieder Trump oder irgendetwas anderes in den Fokus rückt.“
Auch die Erste Bürgermeisterin Brigitte Kössinger muss im Rückblick gestehen, das Ausmaß der Katastrophe nicht vorhergesehen zu haben, als sie im Januar 2020 von den ersten Fällen in ihrem Gemeindegebiet erfährt. Aber wer kann schon ein Jahrhundertereignis vorhersehen?
Die 65-Jährige erzählt von den Befürchtungen, die die Stockdorfer vor einem Jahr plagen. „Ein Bürger wollte, dass wir den Baierplatz komplett desinfizieren“, erinnert sie sich. Es ist der Ortskern, wo auch die Konditorei Harter steht. Dazu der Maibaum, ein Dutzend Parkplätze, eine Bank mit Blick auf die Hauptstraße. Wie sollte das gehen, überall mit der Sprühflasche drüber? Manche übertreiben es mit der Angst. Holger Engelmann, Webasto-Vorstandsvorsitzender, berichtet Ende Januar von Mitarbeitern und deren Familien, die von Firmen und Geschäften abgewiesen werden. Kinder seien von der Kita heimgeschickt, Ehepartner von ihren Arbeitsplätzen verbannt worden.
Wenn man in diesen Tagen über Stockdorf und Webasto spricht, dann muss man den Blick auch rund 50 Kilometer gen Westen richten: nach Kaufering. Die Gemeinde mit ihren rund 10000 Einwohnern im Landkreis Landsberg ist ebenso wie Stockdorf Schauplatz dieser Pandemie – denn aus Kaufering kommt Patient 1.
Am Morgen des 27. Januar 2020 teilt ihm sein Vorgesetzter mit, dass eine chinesische Kollegin positiv auf das Coronavirus getestet worden ist – neben ihr hatte der damals 33-Jährige sieben Tage zuvor in einer Besprechung gesessen. Zur Begrüßung hatten sie sich die Hand gegeben – wie das damals, bevor das Virus alles veränderte, eben so üblich war.
Plötzlich ist Sars-CoV-2 also da, ist nicht mehr nur ein Virus, das am anderen Ende der Welt wütet. „Ich habe sofort an meine Familie gedacht. Am Wochenende hatte ich Fieber und Schüttelfrost, jedoch keine Atembeschwerden. Trotzdem war ich sofort um meine schwangere Frau und um meine kleine Tochter besorgt“, erzählt Patient 1 viele Monate später in einem internen Webasto-Interview, das die Firma unserer Redaktion zur Verfügung gestellt hat. Persönlich will sich der Mann nicht äußern, auch sein Name soll nirgendwo erscheinen.
Der 33-Jährige geht an jenem Januartag vor einem Jahr sofort zu seinem Hausarzt, Symptome hat er zu diesem Zeitpunkt keine mehr. Er schildert dem Mediziner, was passiert ist – und wird sofort ins Tropeninstitut nach München geschickt, wo er getestet wird. Danach fährt er nach Hause und wartet auf das Ergebnis. „An diesem Montagabend habe ich zum ersten Mal meiner Tochter keinen Gutenachtkuss gegeben und war auch auf Distanz zu meiner Frau“, erzählt er. „Kurz nach 20 Uhr kam dann der Anruf, bei dem mir das Ergebnis mitgeteilt wurde. Mir wurde gesagt, dass ich mich sofort ins Schwabinger Krankenhaus begeben soll, zu einem bestimmten Gebäude und dort zu einer bestimmten Station. Ich sollte mich nicht an der Rezeption melden, sondern direkt auf das Gelände fahren, und man würde auf mich warten.“
Freunde und Familie sind damals natürlich geschockt. „Ich habe täglich von allen Anrufe bekommen, da sie sich große Sorgen um mich gemacht haben. Ich habe sie stets beruhigt und gesagt, dass es mir gut gehe“, erzählt Patient 1. Seine Sorge, die Familie oder Freunde angesteckt zu haben, bestätigt sich nicht. Und das, sagt der Webasto-Mitarbeiter rückblickend, sei für ihn bis heute nicht nachvollziehbar, „da ich eine volle Woche unbewusst dieses Virus in mir hatte und ich normal mit meiner Familie und Freunden zusammen war“.
Nach 19 Tagen wird Deutschlands erster Corona-Patient aus dem Krankenhaus entlassen, Auswirkungen der Erkrankung spüre er nicht, berichtet er. „Mir geht es bestens. Ich wurde öfter von Kopf bis Fuß untersucht und es wurden keine Spätfolgen festgestellt.“Vor einer erneuten Erkrankung ist er allerdings nicht gefeit: „Seit April habe ich keine neutralisierenden Antikörper mehr“, sagt er.
Einer, der die Stimmung damals in Kaufering miterlebt, ist Thomas Salzberger, der Bürgermeister. „Wir waren alle besorgt, das Virus war plötzlich so nah“, sagt er heute. Dass es in seiner Gemeinde den ersten Corona-Fall in Deutschland gibt, hört Salzberger damals am Abend im Radio. „Ich hätte mir schon gewünscht, dass ich es von offizieller Seite erfahren hätte.“
Zu Patient 1 hat er damals keinen persönlichen Kontakt, zu dessen Frau aber schon. „Mit ihr ist man am Anfang nicht gerade zimperlich umgegangen.“Salzberger meint damit die Debatte um den Kindergarten. Die Verunsicherung vieler Menschen ist damals groß. Vor alKonditor lem Eltern von Kindern, die den Kindergarten der Tochter des Corona-Patienten besuchen, haben Angst, dass das Virus in die Einrichtung geschleppt wird – obwohl aus der Familie des Webasto-Mitarbeiters niemand infiziert ist.
Anfang März wird die Initiative „Kaufering hoit zam“gegründet. Etwa 80 Ehrenamtliche erklären sich bereit, für Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, einzukaufen oder mit dem Hund Gassi zu gehen – und das machen sie heute noch. Dass die Corona-Krise zu einem wahren Marathon werden würde, dass zwei Lockdowns das öffentliche Leben lahmlegen und die Menschen bald nur noch mit Mundschutz einkaufen gehen, das kann sich Salzberger damals noch nicht vorstellen.
Ganz ähnlich erlebt auch Gabriele Triebel, damals Zweite Bürgermeisterin von Kaufering, die ersten Wochen des vergangenen Jahres. Bevor klar ist, dass der erste deutsche Corona-Patient aus ihrer Gemeinde stammt, sei das Virus für sie ganz weit weg gewesen, erzählt Triebel. „Mir ging es wie allen anderen. Ich war mir sicher, dass uns das nicht so schnell betrifft. Aber auf einmal war das Virus eben da. Mitten in unserer Gesellschaft. Das war ein beklemmendes Gefühl“, erinnert sich Triebel, die für die Grünen im Bayerischen Landtag sitzt. Die Dramatik, die die Situation mittlerweile erreicht hat, die habe sie in diesen ersten, merkwürdigen Tagen nach Bekanntwerden des Corona-Falls einfach nicht gesehen. Als Kaufering immer wieder als „Little Wuhan“bezeichnet wurde, habe sie zuerst noch geschmunzelt. „Das war aber schnell vorbei, als klar war, welche Dimensionen das Ganze annimmt.“
Die Stockdorfer Bürgermeisterin Brigitte Kössinger – anpackende Juristin, die sich auf Bildern gern im Trachtenjanker präsentiert – hat in den Monaten nach dem Ansturm in Stockdorf vielleicht noch etwas mehr Arbeit mit dem Virus als andere Kommunalpolitiker. „Bis vor ungefähr drei Monaten waren wir die
Die Infektionszahlen stiegen in Bayern sehr schnell
Mit einem solchen Ausmaß hat niemand gerechnet
Gemeinde mit den meisten Fällen im Landkreis Starnberg.“Mittlerweile hat sich das eingependelt, in den vergangenen Tagen registrierte das Gesundheitsamt höchstens eine Handvoll Neuinfektionen pro Tag, manchmal keine. Die Inzidenz im Kreis Starnberg liegt bei 61 – weniger als der bayerische Durchschnitt. Ja, die Gewerbesteuereinnahmen sind zurückgegangen und die der Einkommenssteuer auch. Aber das betrifft den größten Teil der Gemeinden im Freistaat. Die Regierung hat deshalb kürzlich angekündigt, die Gewerbe-Verluste finanziell auszugleichen.
Stockdorf ist mittlerweile wieder eine Gemeinde wie jede andere in Bayern – das bestätigt der Tankstellenbesitzer, das bestätigt Konditor Ludwig Harter. Der Verkehr läuft wie gewohnt, die Autos fahren eher durch als hier anzuhalten. Vor dem verglasten Firmensitz von Webasto wehen ebenso wie damals die deutsche und die bayerische Flagge im Winterwind. Anders als vor der Pandemie sind die Stockwerke aber immer noch verwaist, höchstens ein, zwei Schatten pro Stockwerk zeichnen sich hinter der Glasfront ab. Im Homeoffice läuft der Betrieb – auch wenn es nach Angaben des Unternehmens in den vergangenen Monaten immer wieder positiv getestete Mitarbeiter gegeben hat, vor allem an anderen Standorten in Europa und den USA. Nicht in Stockdorf.
Auf der Anschlagtafel gleich unter dem Maibaum sollten eigentlich Neuigkeiten aus der Gemeinde stehen. Jetzt steht darauf: nichts. Es ist wieder ruhig. Der „Anfangsschock“in Stockdorf war vorbei, als der erste Lockdown in Bayern begann. Doch wie das Virus heißt, wird natürlich niemand je vergessen.