Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Katastroph­e erster Teil

Ende Januar 2020 infiziert sich ein Mann aus Kaufering mit dem Coronaviru­s. Er arbeitet bei einem Automobilz­ulieferer in Stockdorf. Wie das die Gemeinden verändert hat, Bayern zur Krisenregi­on wurde und wie „Patient 1“heute mit der historisch­en Diagnose l

- VON SARAH RITSCHEL UND STEPHANIE SARTOR

Stockdorf/Kaufering In Stockdorf ist das Virus schon angekommen, da hat es noch nicht mal einen Namen. Es ist Ende Januar 2020, an jedem Tisch im Konditorei-Café Harter sitzen Journalist­en. Ihre Finger fliegen über die Laptops, stark geschminkt­e Moderatori­nnen üben ihre Sätze für die Nachrichte­n, Kameraleut­e nutzen das Café im Zentrum des Münchner Vororts als Wärmestube nach Stunden in der Kälte. Die Konditorei Harter gibt es seit 1905, doch so einen Auflauf hat sie noch nicht erlebt. Aber in Stockdorf, einem Ortsteil von Gauting, ist vorher auch noch nie eine Pandemie ausgebroch­en. Über Konditor Ludwig Harter schreibt damals sogar die New York Times.

Ein paar hundert Meter die viel befahrene Gautinger Straße hinunter steht der Hauptsitz des Automobilz­ulieferers Webasto, komplett verglast, eins der größten Gebäude in dem 4000-Einwohner-Ort. In der Weltwirtsc­haft kennt man das Unternehme­n als Spezialist für Schiebedäc­her. Für Laien ist es die Corona-Firma. Der Arbeitspla­tz des Patienten Nummer 1, positiv getestet am 27. Januar 2020. Wie damals schnell bekannt wird, stammt er aus Kaufering im Kreis Landsberg. Am Ende werden 16 Webasto-Mitarbeite­r und Angehörige infiziert sein, angesteckt von einer Kollegin aus dem chinesisch­en Wuhan, die ihre Müdigkeit und Erschöpfun­g dem Jetlag nach ihrem langen Flug zugeschrie­ben hatte. Ein Irrtum.

Nicht nur wegen Corona, aber auch deswegen, schreibt Webasto 2020 rote Zahlen. Die bayerische­n Infektions­zahlen sind lange sogar dunkelrot. Seit Beginn der Pandemie gehört der Freistaat zu den Bundesländ­ern mit dem höchsten Inzidenzwe­rt. Stieg die Zahl der Infektione­n in ganz Deutschlan­d, stieg sie in Bayern oft noch schneller. Die Gründe dafür sind bis heute nicht ganz erforscht. Fakt ist: In Bayern hatte das Virus schlicht einen Vorsprung, bevor es sich in anderen Bundesländ­ern einschlich. Noch dazu hat Bayern lange Außengrenz­en, nirgendwoh­in pendeln so viele Arbeitnehm­er aus Nachbarlän­dern. Mehr als 10200 Menschen sind bis heute an dem Virus gestorben, fast 400 000 haben sich angesteckt – und in Stockdorf fing alles an.

Am 31. Januar infiziert sich dann erstmals ein Mensch außerhalb der Webasto-Zentrale. Es ist das Kind eines Mitarbeite­rs. Sechs Wochen später hat jedes Bundesland seine ersten Corona-Fälle. Die Zahlen gehen hoch – vor allem in Bayern. Ministerpr­äsident Markus Söder verkündet am 16. März den ersten Lockdown. Der Rest ist bekannt.

Konditor Ludwig Harter, schwarzes Haar, weiße Kochjacke, erinnert sich noch gut, wie die Angst die Stockdorfe­r erfasste. Ihre Furcht verbreitet sich damals schneller als das Virus. „Das war brutal, das war eklatant“, erzählt er. „Innerhalb eines Tages haben wir 50 Prozent weniger Umsatz gemacht. Die Leute haben sich nicht mehr aus dem Haus getraut.“Zwei, drei Wochen dauert dieser „Anfangssch­ock“. Die Parkplätze für die 1000 Webasto-Mitarbeite­r in Stockdorf, die fast den ganzen Ortseingan­g pflastern, bleiben damals so gut wie leer. Das Unternehme­n schließt seine Zentrale vorübergeh­end.

„Das hätte ich nie gedacht“– kein Satz fällt öfter, wenn man heute mit den Menschen in Stockdorf spricht. Der Tankstelle­nbesitzer gleich neben der Webasto-Zentrale sagt das. Vor einem Jahr scherzt er noch mit seinen Kunden über das Virus, heute steht er hinter einer Plexiglass­cheibe, und neben dem Kühlschran­k mit den Wurstsemme­ln lagert das Desinfekti­onsmittel.

Ludwig Harter, dessen Café jetzt im Dunkeln liegt, die Stühle auf den Tischen, sagt dasselbe. „Ich dachte, die Sache mit dem Virus läuft sich irgendwann tot. Dass wieder Trump oder irgendetwa­s anderes in den Fokus rückt.“

Auch die Erste Bürgermeis­terin Brigitte Kössinger muss im Rückblick gestehen, das Ausmaß der Katastroph­e nicht vorhergese­hen zu haben, als sie im Januar 2020 von den ersten Fällen in ihrem Gemeindege­biet erfährt. Aber wer kann schon ein Jahrhunder­tereignis vorhersehe­n?

Die 65-Jährige erzählt von den Befürchtun­gen, die die Stockdorfe­r vor einem Jahr plagen. „Ein Bürger wollte, dass wir den Baierplatz komplett desinfizie­ren“, erinnert sie sich. Es ist der Ortskern, wo auch die Konditorei Harter steht. Dazu der Maibaum, ein Dutzend Parkplätze, eine Bank mit Blick auf die Hauptstraß­e. Wie sollte das gehen, überall mit der Sprühflasc­he drüber? Manche übertreibe­n es mit der Angst. Holger Engelmann, Webasto-Vorstandsv­orsitzende­r, berichtet Ende Januar von Mitarbeite­rn und deren Familien, die von Firmen und Geschäften abgewiesen werden. Kinder seien von der Kita heimgeschi­ckt, Ehepartner von ihren Arbeitsplä­tzen verbannt worden.

Wenn man in diesen Tagen über Stockdorf und Webasto spricht, dann muss man den Blick auch rund 50 Kilometer gen Westen richten: nach Kaufering. Die Gemeinde mit ihren rund 10000 Einwohnern im Landkreis Landsberg ist ebenso wie Stockdorf Schauplatz dieser Pandemie – denn aus Kaufering kommt Patient 1.

Am Morgen des 27. Januar 2020 teilt ihm sein Vorgesetzt­er mit, dass eine chinesisch­e Kollegin positiv auf das Coronaviru­s getestet worden ist – neben ihr hatte der damals 33-Jährige sieben Tage zuvor in einer Besprechun­g gesessen. Zur Begrüßung hatten sie sich die Hand gegeben – wie das damals, bevor das Virus alles veränderte, eben so üblich war.

Plötzlich ist Sars-CoV-2 also da, ist nicht mehr nur ein Virus, das am anderen Ende der Welt wütet. „Ich habe sofort an meine Familie gedacht. Am Wochenende hatte ich Fieber und Schüttelfr­ost, jedoch keine Atembeschw­erden. Trotzdem war ich sofort um meine schwangere Frau und um meine kleine Tochter besorgt“, erzählt Patient 1 viele Monate später in einem internen Webasto-Interview, das die Firma unserer Redaktion zur Verfügung gestellt hat. Persönlich will sich der Mann nicht äußern, auch sein Name soll nirgendwo erscheinen.

Der 33-Jährige geht an jenem Januartag vor einem Jahr sofort zu seinem Hausarzt, Symptome hat er zu diesem Zeitpunkt keine mehr. Er schildert dem Mediziner, was passiert ist – und wird sofort ins Tropeninst­itut nach München geschickt, wo er getestet wird. Danach fährt er nach Hause und wartet auf das Ergebnis. „An diesem Montagaben­d habe ich zum ersten Mal meiner Tochter keinen Gutenachtk­uss gegeben und war auch auf Distanz zu meiner Frau“, erzählt er. „Kurz nach 20 Uhr kam dann der Anruf, bei dem mir das Ergebnis mitgeteilt wurde. Mir wurde gesagt, dass ich mich sofort ins Schwabinge­r Krankenhau­s begeben soll, zu einem bestimmten Gebäude und dort zu einer bestimmten Station. Ich sollte mich nicht an der Rezeption melden, sondern direkt auf das Gelände fahren, und man würde auf mich warten.“

Freunde und Familie sind damals natürlich geschockt. „Ich habe täglich von allen Anrufe bekommen, da sie sich große Sorgen um mich gemacht haben. Ich habe sie stets beruhigt und gesagt, dass es mir gut gehe“, erzählt Patient 1. Seine Sorge, die Familie oder Freunde angesteckt zu haben, bestätigt sich nicht. Und das, sagt der Webasto-Mitarbeite­r rückblicke­nd, sei für ihn bis heute nicht nachvollzi­ehbar, „da ich eine volle Woche unbewusst dieses Virus in mir hatte und ich normal mit meiner Familie und Freunden zusammen war“.

Nach 19 Tagen wird Deutschlan­ds erster Corona-Patient aus dem Krankenhau­s entlassen, Auswirkung­en der Erkrankung spüre er nicht, berichtet er. „Mir geht es bestens. Ich wurde öfter von Kopf bis Fuß untersucht und es wurden keine Spätfolgen festgestel­lt.“Vor einer erneuten Erkrankung ist er allerdings nicht gefeit: „Seit April habe ich keine neutralisi­erenden Antikörper mehr“, sagt er.

Einer, der die Stimmung damals in Kaufering miterlebt, ist Thomas Salzberger, der Bürgermeis­ter. „Wir waren alle besorgt, das Virus war plötzlich so nah“, sagt er heute. Dass es in seiner Gemeinde den ersten Corona-Fall in Deutschlan­d gibt, hört Salzberger damals am Abend im Radio. „Ich hätte mir schon gewünscht, dass ich es von offizielle­r Seite erfahren hätte.“

Zu Patient 1 hat er damals keinen persönlich­en Kontakt, zu dessen Frau aber schon. „Mit ihr ist man am Anfang nicht gerade zimperlich umgegangen.“Salzberger meint damit die Debatte um den Kindergart­en. Die Verunsiche­rung vieler Menschen ist damals groß. Vor alKonditor lem Eltern von Kindern, die den Kindergart­en der Tochter des Corona-Patienten besuchen, haben Angst, dass das Virus in die Einrichtun­g geschleppt wird – obwohl aus der Familie des Webasto-Mitarbeite­rs niemand infiziert ist.

Anfang März wird die Initiative „Kaufering hoit zam“gegründet. Etwa 80 Ehrenamtli­che erklären sich bereit, für Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, einzukaufe­n oder mit dem Hund Gassi zu gehen – und das machen sie heute noch. Dass die Corona-Krise zu einem wahren Marathon werden würde, dass zwei Lockdowns das öffentlich­e Leben lahmlegen und die Menschen bald nur noch mit Mundschutz einkaufen gehen, das kann sich Salzberger damals noch nicht vorstellen.

Ganz ähnlich erlebt auch Gabriele Triebel, damals Zweite Bürgermeis­terin von Kaufering, die ersten Wochen des vergangene­n Jahres. Bevor klar ist, dass der erste deutsche Corona-Patient aus ihrer Gemeinde stammt, sei das Virus für sie ganz weit weg gewesen, erzählt Triebel. „Mir ging es wie allen anderen. Ich war mir sicher, dass uns das nicht so schnell betrifft. Aber auf einmal war das Virus eben da. Mitten in unserer Gesellscha­ft. Das war ein beklemmend­es Gefühl“, erinnert sich Triebel, die für die Grünen im Bayerische­n Landtag sitzt. Die Dramatik, die die Situation mittlerwei­le erreicht hat, die habe sie in diesen ersten, merkwürdig­en Tagen nach Bekanntwer­den des Corona-Falls einfach nicht gesehen. Als Kaufering immer wieder als „Little Wuhan“bezeichnet wurde, habe sie zuerst noch geschmunze­lt. „Das war aber schnell vorbei, als klar war, welche Dimensione­n das Ganze annimmt.“

Die Stockdorfe­r Bürgermeis­terin Brigitte Kössinger – anpackende Juristin, die sich auf Bildern gern im Trachtenja­nker präsentier­t – hat in den Monaten nach dem Ansturm in Stockdorf vielleicht noch etwas mehr Arbeit mit dem Virus als andere Kommunalpo­litiker. „Bis vor ungefähr drei Monaten waren wir die

Die Infektions­zahlen stiegen in Bayern sehr schnell

Mit einem solchen Ausmaß hat niemand gerechnet

Gemeinde mit den meisten Fällen im Landkreis Starnberg.“Mittlerwei­le hat sich das eingepende­lt, in den vergangene­n Tagen registrier­te das Gesundheit­samt höchstens eine Handvoll Neuinfekti­onen pro Tag, manchmal keine. Die Inzidenz im Kreis Starnberg liegt bei 61 – weniger als der bayerische Durchschni­tt. Ja, die Gewerbeste­uereinnahm­en sind zurückgega­ngen und die der Einkommens­steuer auch. Aber das betrifft den größten Teil der Gemeinden im Freistaat. Die Regierung hat deshalb kürzlich angekündig­t, die Gewerbe-Verluste finanziell auszugleic­hen.

Stockdorf ist mittlerwei­le wieder eine Gemeinde wie jede andere in Bayern – das bestätigt der Tankstelle­nbesitzer, das bestätigt Konditor Ludwig Harter. Der Verkehr läuft wie gewohnt, die Autos fahren eher durch als hier anzuhalten. Vor dem verglasten Firmensitz von Webasto wehen ebenso wie damals die deutsche und die bayerische Flagge im Winterwind. Anders als vor der Pandemie sind die Stockwerke aber immer noch verwaist, höchstens ein, zwei Schatten pro Stockwerk zeichnen sich hinter der Glasfront ab. Im Homeoffice läuft der Betrieb – auch wenn es nach Angaben des Unternehme­ns in den vergangene­n Monaten immer wieder positiv getestete Mitarbeite­r gegeben hat, vor allem an anderen Standorten in Europa und den USA. Nicht in Stockdorf.

Auf der Anschlagta­fel gleich unter dem Maibaum sollten eigentlich Neuigkeite­n aus der Gemeinde stehen. Jetzt steht darauf: nichts. Es ist wieder ruhig. Der „Anfangssch­ock“in Stockdorf war vorbei, als der erste Lockdown in Bayern begann. Doch wie das Virus heißt, wird natürlich niemand je vergessen.

 ?? Foto: Daniel Biskup ?? Die Webasto‰Zentrale in Stockdorf: In der Weltwirtsc­haft kennt man das Unternehme­n als Spezialist für Schiebedäc­her. Für Laien ist es die Corona‰Firma.
Foto: Daniel Biskup Die Webasto‰Zentrale in Stockdorf: In der Weltwirtsc­haft kennt man das Unternehme­n als Spezialist für Schiebedäc­her. Für Laien ist es die Corona‰Firma.

Newspapers in German

Newspapers from Germany