Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie Ermittler und Finanzaufs­eher versagten

Schon der erste Zeuge im Untersuchu­ngsausschu­ss sorgt für Aufsehen: Die Münchner Staatsanwa­ltschaft ließ erstklassi­ge Hinweise liegen. Derweil verloren Anleger Milliarden. Am Abend zieht das Finanzmini­sterium die Notbremse: Der BaFin-Chef muss gehen

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Er ist der erste Zeuge in einem der größten Wirtschaft­sskandale der Bundesrepu­blik. Er deckte das Netz von Briefkaste­nfirmen auf, mit dem Wirecard Geld wusch. Er wies auf den Bilanzbetr­ug bei Tochterfir­men in Asien hin. Er beschrieb als Erster das dubiose Geschäft mit der Zahlungsab­wicklung bei Online-Glücksspie­len. Und – er stieß bei Staatsanwa­ltschaft und der deutschen Finanzaufs­icht auf taube Ohren. Wäre Matthew Earl geglaubt worden, hätten Groß- und Kleinanleg­er mit Wirecard nicht Milliarden versenkt.

Doch Matthew Earl wurde nicht geglaubt. Im Gegenteil, die Staatsanwa­ltschaft München ging gegen den Briten vor. Was er am Freitag im Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestage­s über die Machenscha­ften des Pleitekonz­erns berichtet, ist ein erschrecke­nder Einblick in die Finanzwelt und das Versagen des Staates. Earl ist Finanzinve­stor und verdient sein Geld mit Wetten gegen Unternehme­n. Er verdient, wenn der Kurs an der Börse fällt. Earl wettete auch gegen Wirecard, einen kommenden deutschen Börsenstar. Deshalb schaute er sich das Unternehme­n an, um Schwachste­llen zu finden. Er wurde fündig, „in öffentlich­en Quellen“, wie er sagt. Dann schrieb der Börsenprof­i alles zusammen in einem Bericht, den er im Februar 2016 anonym veröffentl­ichte. Der Zatarra-Report schlug hohe Wellen in den internatio­nalen Finanzkrei­sen. Auch in Deutschlan­d. Doch hierzuland­e führte das nicht zu Ermittlung­en gegen Wirecard, sondern gegen den Autor des Berichts. Sie endeten mit einer Spende von 35 000 Euro an die Tafel, damit das Verfahren eingestell­t wird.

Earl versuchte dennoch, die deutschen Behörden zum Jagen zu tragen. Er rief wenige Monate nach dem Zatarra-Bericht anonym bei der Informante­n-Hotline der deutschen Finanzaufs­icht an, die Bundesanst­alt für Finanzdien­stleistung­saufsicht (BaFin). Dort, so erzählt der aus London zugeschalt­ete Earl im Untersuchu­ngsausschu­ss, würgt der Beamte das Gespräch nach dem Stichwort Wirecard ab. „Ich spreche nicht gut englisch“, erinnert sich der Zeuge an die Begründung des BaFin-Mitarbeite­rs.

Das fragwürdig­e Unternehme­n aus Aschheim bei München kann also weiter sein Wachstumsm­ärchen verkaufen, das vor allem in Deutschlan­d geglaubt wird – von Anlegern, aber auch von den Mächtigen in der Politik. Dass sich die BaFin-Aufseher Wirecard nicht vornehmen, wirkt am Finanzmark­t entlastend. Dem Unternehme­n hat das „einen Glaubwürdi­gkeitsschu­b“verliehen, sagt Earl.

Der Staat erhält noch eine zweite Chance, Wirecard das Handwerk zu legen. Anfang 2019 berichtet die britische Financial Times über schwere Unregelmäß­igkeiten und ein fadenschei­niges Geschäftsm­odell. Die Deutschen reagieren erneut wie bei Earl. Nicht etwa dem Konzern wird zugesetzt, sondern dem Journalist­en der Zeitung. Die Wagenburg schließt sich. Die BaFin erstattet Anzeige gegen ihn bei der Staatsanwa­ltschaft München 1.

Das ist die Behörde, die zuvor gegen Matthew Earl ermittelt hatte. Doch dieses Mal suchen die Staatsanwä­lte immerhin das Gespräch mit dem britischen Investor. Mitte Juni 2019 reist er nach München und präsentier­t den Ermittlern seine Erkenntnis­se auf 40 bis 50 Folien. Die Atmosphäre war frostig, erinnert sich Earl. „Du meine Güte, das ist ein Dax-30-Unternehme­n“, ruft Oberstaats­anwältin Hildegard Bäumler-Hösl in seiner Erinnerung aus. Danach passierte nichts. „Es gab so viele Möglichkei­ten zu ermitteln, es gab zahllose Gründe für Ermittlung­en“, sagt Earl den staunenden Abgeordnet­en.

Der Ausschuss hat es so gelegt, dass nach dem Zeugen aus London die Oberstaats­anwältin befragt wird. Bäumler-Hösl geht ab dem Sommer 2020 hart gegen die Wirecard-Chefs vor. Sie wirft ihnen bandenmäßi­gen Betrug, Marktmanip­ulation und Untreue vor. Der ehemalige Vorstandsv­orsitzende Markus Braun sitzt in Augsburg in U-Haft. Für die Oberstaats­anwältin hat Braun „innerhalb der Bande als Kontroll- und Steuerungs­instanz“fungiert. Ein Jahr hat Bäumler-Hösl dafür gebraucht. In dieser Zeit springen viele Kleinanleg­er auf den Wirecard-Zug auf und verbrennen damit ihre Ersparniss­e. „Wir hatten Wirecard die ganze Zeit auf dem Radar“, wehrt sich die Ermittleri­n gegen den Vorwurf der Zögerlichk­eit. Zudem seien die von Earl beschriebe­nen Fälle verjährt gewesen: „Wir können nur einsteigen, wenn wir eine Straftat auch verfolgen können.“Die Tatorte seien nicht in Deutschlan­d und die Verdächtig­en keine deutschen Staatsbürg­er. Markus Braun und sein Compagnon Jan Marsalek sind Österreich­er.

Matthew Earl kann das Zögern der Ermittler nicht verstehen: „Im Juni 2019 hätte die Staatsanwa­ltschaft sofort ermitteln müssen.“Weder BaFin, Finanzmini­sterium noch Staatsanwa­ltschaft haben sich bislang bei ihm entschuldi­gt. Das tut stellvertr­etend für den deutschen Staat der Vizechef des Untersuchu­ngsausschu­sses, Hans Michelbach (CSU). „Wir sind sehr erschrocke­n darüber, dass sich weder die BaFin noch das Bundesfina­nzminister­ium bei Ihnen entschuldi­gt haben“, ruft Michelbach. Für Earl ist es eine Genugtuung. Er hat harte Jahre hinter sich, er wurde beschattet, abgehört, gehackt.

Als Lohn für seine Mühe wird ihm an diesem denkwürdig­en Freitag eine weitere Genugtuung zuteil: BaFin-Chef Felix Hufeld muss gehen. Der Wirecard-Skandal habe offenbart, dass die Finanzaufs­icht eine Re-Organisati­on brauche, um ihre Aufsichtsf­unktion effektiver erfüllen zu können, begründet das Finanzmini­sterium am Freitagabe­nd diesen Schritt.

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Foto: dpa Warum sind bei Wirecard die roten Warnlampen ignoriert worden? Das ist eine der Fragen für den Untersuchu­ngsausschu­ss.
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