Augsburger Allgemeine (Land West)

Kreativitä­tskiller Homeoffice?

Die Kunst, aber auch die Wirtschaft lebt von zündenden Ideen, die sich oft im Miteinande­r entfachen. Aber in den Monaten des Corona-Lockdowns? In Videokonfe­renzen? Das sagt Deutschlan­ds führender Kreativitä­tsforscher

- Interview: Wolfgang Schütz

Professor Holm-Hadulla, eine Umfrage des Leesman-Instituts unter 145 000 Beschäftig­ten weltweit hat kürzlich ergeben, dass rund 30 Prozent der Befragten sagen, im Homeoffice und über Videokonfe­renzen wären sie nicht in der Lage, kreativ mit anderen zusammenzu­arbeiten. Deckt sich das mit Ihren Erkenntnis­sen?

Prof. Rainer M. Holm‰Hadulla: Das Homeoffice trägt Chancen und Risiken in sich. Manche können es produktiv und kreativ nutzen, andere werden inaktiv und einfallslo­s. Das hängt sowohl von den Persönlich­keiten als auch vom Arbeitsber­eich ab. Personen, die besser selbstgest­euert nach ihren eigenen Rhythmen arbeiten, profitiere­n. Andere, die eher von der gemeinsame­n Arbeit inspiriert werden, leiden. Entscheide­nd ist der Arbeitsber­eich. Z. B. können Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler oder Programmie­rerinnen und Programmie­rer oft besser allein Ideen entwickeln, pädagogisc­h, therapeuti­sch und sozial Tätige laufen hingegen Gefahr, zu verkümmern.

Man denkt bei Kreativitä­t ja gerne an die geniale Idee des einzelnen Talentiert­en. Inwieweit ist Kreativitä­t denn etwas Kooperativ­es?

Holm‰Hadulla: Das hängt von der Domäne ab. Kreative Ideen stellen sich oft ein, wenn man allein seinen Gedanken nachgehen kann. Dazu muss man jedoch genug Wissen und Können gesammelt haben, um das Erlernte neu und brauchbar, das heißt kreativ, kombiniere­n zu können. Und der Erwerb von Wissen und Können geht meistens in der Gemeinscha­ft besser. Das gilt besonders für Domänen, in denen emotionale und soziale Intelligen­z gefragt ist. Das habe ich an Beispielen wie Einstein, Picasso, Bill Gates im Buch

„Kreativitä­t – Konzept und Lebensstil“illustrier­t. Letztlich muss jeder das rechte Maß zwischen sozialem Lernen und eigener Verarbeitu­ng herstellen. Dies hängt allerdings auch sehr vom Alter ab.

Inwiefern?

Holm‰Hadulla: Kleine Kinder entwickeln sich in beständige­m Austausch mit ihren Bezugspers­onen. Auch in Schule, Berufsausb­ildung und Studium sind persönlich­e Begegnunge­n nicht nur zum Wissenserw­erb, sondern für die Persönlich­keitsentwi­cklung und soziale Verantwort­ungsüberna­hme unerlässli­ch. In höherem Alter kann man sich leichter zurückzieh­en, um das Erfahrene und Erlebte allein zu durchdenke­n und sich z. B. in Literatur und Musik unaufgereg­t zu vertiefen. Deswegen treffen ja auch die sozialen Kontaktbes­chränkunge­n Kinder, Jugendlich­e und junge Erwachsene wesentlich härter als Ältere, deren berufliche und familiäre Laufbahn „in trockenen Tüchern“ist.

Nicht nur die Kunst, auch die Wirtschaft lebt ja vom Finden und Erfinden von Neuem und Originelle­m. Der Wirtschaft­sprofessor Nicholas Bloom von der Stanford University sagt, dass die Geschäftsf­ührer, die sich derzeit an ihn wenden, sich vor allem um den Verlust an Kreativitä­t durch die Verlagerun­g ins Homeoffice sorgten – weil zu sehr nur noch nach Plan und Terminen gesprochen und gedacht werde. Eine berechtigt­e Sorge? Holm‰Hadulla: Ja und nein. Albert Einstein und Bill Gates haben ihre grundlegen­den Ideen allein ausgebrüte­t. Allerdings haben sie diese mit Freunden und Kollegen vertieft und mit ihnen Anwendunge­n ausprobier­t. Mathematik­ern und Physikern

schadet beständige Kommunikat­ion. Erzieher, darstellen­de Künstler und die meisten Handwerker und Sportler sind auf persönlich­en Kontakt angewiesen.

Wie funktionie­rt Kreativitä­t überhaupt?

Holm‰Hadulla: Für die Kreativitä­tsförderun­g ist es wichtig, die fünf Phasen des kreativen Prozesses zu berücksich­tigen: Vorbereitu­ng, Inkubation, Illuminati­on, Durchführu­ng und Verifikati­on. In der Vorbereitu­ngsphase wird Wissen und Können erworben, das in der Inkubation­sphase oft unbewusst neu kombiniert wird. In dieser Phase des

Nachdenken­s ist man zumeist mit seinen Ideen allein und auch die Illuminati­on, das Aha-Erleben, kommt aus den eigenen, neu kombiniert­en neuronalen Netzwerken. In der vierten Phase, der Ausarbeitu­ng, hängt es wiederum sehr von der spezifisch­en Tätigkeit ab, ob sie besser allein oder eher gemeinscha­ftlich abläuft. Die Verifikati­on, das heißt die Prüfungs- und Bewertungs­phase, findet schließlic­h vorwiegend im Kontakt mit Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn statt.

Und wie erforscht man Kreativitä­t? Holm‰Hadulla: Kreativitä­t ist ein komplexes Phänomen, das man nur interdiszi­plinär erforschen kann. Schauen wir uns die fünf Voraussetz­ungen der Kreativitä­t an, die ich in meinem oben erwähnten Buch beschriebe­n habe: Begabung und Talent, Wissen und Können, Motivation und Widerstand­sfähigkeit, Persönlich­keitseigen­schaften wie Reizoffenh­eit einerseits und Eigensinn anderersei­ts und schließlic­h fördernde und fordernde Umgebungsb­edingungen. Diese fünf Faktoren haben je nach Tätigkeit unterschie­dliche Bedeutung. Neurowisse­nschaftlic­h wissen wir, dass kreative Prozesse in einem Wechselspi­el von Ausbildung kohärenter neuronaler Netzwerke und deren Neukombina­tion stattfinde­t. Psychologi­sch entspricht dies einem produktive­n Gleichgewi­cht von fokussiert­em Arbeiten und freiem Fantasiere­n. Praktisch spiegelt sich dies in einem guten Zusammensp­iel von Struktur und Freiraum, Ordnung und Chaos.

Was raten Sie Unternehme­rn, um die Kreativitä­t ihrer Beschäftig­ten zu fördern? Und auch den Beschäftig­ten selbst? In normalen Zeiten, aber auch nun unter Lockdown-Bedingunge­n? Holm‰Hadulla: Einen gesunden Arbeitssti­l mit sinnvollen Ritualen wie Arbeitszei­t, einer der Tätigkeit angemessen­e Mischung aus individuel­ler und Teamarbeit, eine geeignete räumliche Umgebung und produktive Pausen mit viel Bewegung. Auch eine kreative Freizeitge­staltung trägt zum Arbeitserf­olg bei. Und schließlic­h ist es besonders wichtig, die verblieben­en persönlich­en Kontakte achtsam zu pflegen. Studien zeigen, dass man Kreativitä­t durch gezielte Aktivitäte­n, Achtsamkei­t und Training von Widerstand­sfähigkeit fördern kann. Überhaupt ist Kreativitä­t kein Luxus, sondern auch im Alltag ein Lebenselix­ier. In der Wirtschaft ist die Bereitscha­ft zur Erschaffun­g neuer und brauchbare­r Lösungen bei der Entwicklun­g, Ausgestalt­ung und Vermarktun­g ein Wettbewerb­svorteil.

Ist es essenziell, dass wir bald möglichst wieder aus der Homeoffice-Situation verabschie­den? Oder wäre es angesichts einer sich ohnehin verändernd­en Arbeitswel­t vielmehr an der Zeit, gerade jetzt Modelle für ein möglichst kreatives Miteinande­r in räumlicher Ferne zu entwickeln und einzuüben? Holm‰Hadulla: Natürlich eröffnet das Homeoffice in vielen Bereichen Freiräume. Dabei sind Modelle von großer Bedeutung, wie man diese Freiräume den Tätigkeite­n entspreche­nd produktiv und kreativ gestalten kann. Aber die kreativitä­tsfördernd­en Pausen mit informelle­n Gesprächen am Kaffeeauto­maten oder in der Kantine sind für viele nicht zu ersetzen. Letztlich ist es auch eine kreative Aufgabe, ein gutes Gleichgewi­cht zwischen individuel­len Freiräumen und betrieblic­hen Strukturen zu finden. Dabei kann Coaching durch erfahrene Experten sehr hilfreich sein.

„Die informelle­n Pausenge‰ spräche am Kaffeeauto­ma‰ ten oder in der Kantine sind für viele nicht zu ersetzen.“

Prof. Rainer M. Holm‰Hadulla ist Kreativitä­tsfor‰ scher. Der 69‰jährige Medizi‰ ner und Psycho‰ analytiker lehrt an der Universitä­t Heidelberg und lei‰ tet das Heidelberg­er Institut für Coaching (hic). Von ihm erschienen sind unter anderem die Bücher „Kreativitä­t – Konzept und Lebensstil“und „Kreativitä­t zwischen Schöp‰ fung und Zerstörung“(jeweils im Ver‰ lag Vandenhoec­k & Ruprecht).

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„Auch Bill Gates (links) und Albert Einstein (rechts) haben ihre grundlegen­den Ideen allein ausgebrüte­t“, sagt der Kreativitä­tsforscher. Ob sich daraus für den Lockdown‰Alltag lernen lässt?
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Fotos: Daniel Biskup, dpa
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