Augsburger Allgemeine (Land West)
Das Schiff im Erdhügel
Ralph Fiennes spielt in „Die Ausgrabung“einen Archäologen, der eine Sensation entdeckt – am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Ein Film über die Vergänglichkeit
„Sie spricht, die Vergangenheit, nicht wahr?“sagt Basil Brown (Ralph Fiennes) zu der Gutsbesitzerin Edith Pretty (Carey Mulligan). Die beiden stehen auf einem weiten Feld, aus dem vier Hügel herausragen. Dass sie nicht in die Landschaft gehören, sieht man auf den ersten Blick. Vor vielen Jahrhunderten müssen sie von Menschenhand angelegt worden sein und Edith Pretty will wissen, was sich darunter verbirgt. Man schreibt das Jahr 1939. In wenigen Wochen wird Großbritannien nach dem Einmarsch Hitlers in Polen Deutschland den Krieg erklären. Die staatlichen Museen haben Wichtigeres zu tun, als ihre Archäologen zu vier Buckeln in der Provinz zu schicken.
So heuert die Witwe Basil Brown an, der sich selbst bescheiden als „Ausgräber“bezeichnet, nie an einer Universität studiert hat, aber schon als Kind dem Vater bei archäologischen Arbeiten geholfen hat. Er macht sich mit dem Spaten an die Arbeit und entdeckt schon bald den Rumpf eines 27 Meter langen Schiffes, das im 7. Jahrhundert als Grabstätte gedient hat, sowie eine reichhaltig bestückte Schatzkammer. Der Fund von Sutton Hoo in Suffolk gehört zu den bedeutendsten der britischen Archäologie.
Ausgehend von der spektakulären Entdeckung entwirft Regisseur Simon Stone in „Die Ausgrabung“– jetzt im Streaming bei Netflix – einen stimmungsvollen Historienfilm, der weit über das eigentliche Ereignis
hinausgeht. Nach dem Tatsachenroman von John Preston entsteht eine tief melancholische Momentaufnahme am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, an dem sich der Blick in die Zukunft dramatisch verdüstert. Demgegenüber werden die Vergewisserung in der Vergangenheit, aber auch das Wissen um die eigene Vergänglichkeit, die sich im Angesicht der Grabstätte manifestieren, zum Leitmotiv des Films.
Das gilt vor allem für die Figur der verwitweten Gutsbesitzerin, die an einer schweren Herzkrankheit leidet und weiß, dass sie ihren kleinen Sohn als Waisen zurücklassen wird. Mit feinstem Understatement wird die Zuneigung, der gegenseitige Respekt und das stille Einverständnis zwischen der Auftraggeberin und dem Archäologen in Szene gesetzt. Nach der ersten Entdeckung erweitert sich die intime Zweier-Konstellation zu einem breiten Ensemble, als ein Team des British Museum anreist und Brown seinen Fund streitig machen will.
Auch wenn die Gruppendynamik am angelsächsischen Grabmal in der Mitte des Filmes deutlich zunimmt, bewahrt Regisseur Stone ohne dramatische Übersteuerung die melancholische Grundstimmung. Genauso behutsam wie die Archäologen den Jahrtausende alten Schatz mit Spateln und Pinseln freilegen, werden die Sehnsüchte und Ängste der Figuren offenbart. „Die Ausgrabung“ist ein altmodischer Film im besten Sinne, der seine Figuren und deren Zeit mit Respekt behandelt und dadurch eine intime Nähe herstellt.