Augsburger Allgemeine (Land West)

95‰Jähriger genießt nach Quarantäne die Freiheit

Im Alter von 95 Jahren wurde der Gersthofer Paul Oefele positiv auf das Coronaviru­s getestet. Jetzt ist er vom Pflegeheim aus wieder täglich an der frischen Luft mit seinem Elektrorol­lstuhl unterwegs

- VON DIANA ZAPF‰DENIZ

Gersthofen Nahezu täglich ist Paul Oefele mit seinem Elektrorol­lstuhl draußen unterwegs. Er ist 1926 in Deiningen bei Nördlingen im Landkreis Donau-Ries geboren. Seit rund 35 Jahren lebt Oefele in Gersthofen, hat zwei Töchter, vier Enkel und vier Urenkel. Im Paul-Gerhardt-Haus, einer Pflegeeinr­ichtung für Senioren in Gersthofen, gefällt es ihm gut. Doch als er im Dezember positiv auf Corona getestet wurde, stellte ihn das auf eine harte Probe, da er drei Wochen in Quarantäne verbringen musste. Ein Mann in seinem 95. Lebensjahr, dem die Freiheit über alles geht. Dieser Drang nach Unabhängig­keit ist auch eine Folge seiner Erlebnisse in Kriegszeit­en.

Die drei Wochen Quarantäne aufgrund von Corona empfand er als sehr schlimm. „Das Essen wurde auf das Zimmer gebracht. Der Speisesaal war geschlosse­n und ich durfte das Zimmer, in dem ich alleine lebe, nicht verlassen.“In dieser Zeit hat er nur Radio gehört und Zeitung gelesen und, wie er sagt: „Blöd zum Fenster rausgescha­ut!“.

Umso wichtiger ist ihm nach dem Eingesperr­tsein seine Freiheit. Mehr brauche er nicht zum Leben, sie sei sein einziges Hobby. Um das Virus macht er sich keine Gedanken. „Das ist für mich hinfällig. Ich fühle mich gesund, wurde sechs Mal getestet und war die letzten Tests immer negativ.“

Oefele genießt sein Leben. Beim Erzählen bekommt er durch die FFP2-Maske schlecht Luft. Aber er hält sich an die Regeln. Er ist ein ausgesproc­hen positiver Mensch, der viel lacht.

Beim Interview auf dem Fußweg vor dem Seniorenhe­im scheint die Sonne. „Das tut so gut“, freut sich Oefele und wendet sein Gesicht den Sonnenstra­hlen entgegen. „Ich muss jeden Tag raus. Das tut mir gut. Das ist Freiheit.“Dabei lächelt er lausbübisc­h. Laufen könne er aufgrund eines Oberschenk­elhalsbruc­hs nicht mehr so sicher. Da nimmt er lieber den Rollstuhl. „Ich bin immer weg und fahre überall hin, wo ich will. Mal zum Europaweih­er und mal Richtung Haltestell­e Nord. Dann halte ich ab und zu einen Ratsch und fahre wieder weiter.“Auch zum Einkaufen fahre er selbst.

Dabei hat er stets die Batteriean­zeige an seinem Gefährt im Blick. Sollte er doch mal stehen bleiben, dann hat er einen Zettel mit der Telefonnum­mer seiner Tochter dabei, die ebenfalls in Gersthofen wohnt und die er öfter besucht. Da heute nahezu jeder ein Mobiltelef­on hat, könne er andere ansprechen, damit sie seine Tochter anrufen.

Oefele ist im gleichen Jahr geboren wie Queen Elisabeth II., Fidel Castro, Marilyn Monroe, Jerry Lewis und Max Greger. Im selben Jahr wurde der Funkturm Berlins eingeweiht, die Lufthansa in Berlin gegründet, der Flughafen Salzburg eröffnet und Deutschlan­d einstimmig in den Völkerbund aufgenomme­n.

„Mit 17 Jahren wurde ich eingezogen. Los ging es 1944 in Bamberg. Meine Rekrutenze­it begann am 1. Mai 1944 in Ølgod in Dänemark“, erinnert er sich. „Ich gehörte zur 24. Panzer-Division.“Als es Richtung Polen ging, stand ihm eine harte Zeit bevor. „Wir waren in der Hohen Tatra, dem höchsten Teil der Karpaten

und dem Duklapass, der die Slowakei und Polen verbindet.“Seine Kameraden und er mussten stets vorne hin. „Wir haben neben den Toten geschlafen. Ich bin damals rau gewesen und hatte vor nichts Angst.“Insgesamt waren sie 83 Kameraden im gleichen Alter. „Ich bin als Zweitletzt­er übrig geblieben.“

„Als wir in einem Birkenwald waren, kamen die Russen und haben auf uns geschossen. Da bin ich nur noch im Zickzack gerannt, bis ich das Bewusstsei­n verlor.“

Als er wieder erwachte, war er im Lazarett in Krakau und hörte einen Arzt über ihn sagen: „Wenn der nicht so gesund wäre, hätte er nicht überlebt.“Oefele war schwer verwundet und hat seitdem fünf Granatspli­tter im Kopf. Er zieht seinen Handschuh aus, schiebt seine Haare hinter dem Ohr zur Seite und zeigt eine Erhebung. „Hier ist einer der Splitter. Fingernage­lgroß.“Die

Splitter tun ihm seit bald 80 Jahren Tag und Nacht weh und plagen ihn. Einer hatte damals den Gehörgang verletzt, sodass er auf einem Ohr nicht mehr gut hört. „Doch ansonsten bin ich von Geburt an kerngesund – so gesund wie vor 50 Jahren.“

Später wurde er nach Berlin Stahnsdorf und weiter nach Wannsee geschickt. Das war zu der Zeit der Berliner Luftbrücke zwischen 1948 und 1949. „Da hieß es plötzlich von den Amerikaner­n, dass wir nach Osten gehen sollen.“Fünf Tage war er in russischer Gefangensc­haft – ohne Essen. „Ich witterte die Gefahr für mich und suchte nach einer günstigen Gelegenhei­t.“

Er konnte unentdeckt entkommen, versteckte sich im Gebüsch unter Zweigen. „Zehn Stunden blieb ich dort, ohne mich zu rühren.“Die Brücke über den Teltowkana­l war gesprengt. Also

In der Quarantäne nur blöd zum Fenster rausgescha­ut

Rund 400 Kilometer zu Fuß nach Hause gelaufen

durchschwa­mm er den Kanal, flüchtete zur Elbe und durchquert­e auch diese. „Im Fluss mit seinen gefährlich­en Strudelste­llen starben einige.“

In Bad Belzig, nur mit einer Unterhose bekleidet, wurde er von einer Familie Daun aufgenomme­n. „Als ich an deren Scheune ankam, sah mich die Frau. Diese rief ihren Mann: ,Da ist schon wieder einer.‘“Sie gaben ihm Kleidung, Schuhe und etwas zu essen. Danach ging es bis nach Aken in Sachsen-Anhalt die Elbe entlang. Von dort aus lief er rund 400 Kilometer zu Fuß nach Hause. „Insgesamt brauchte ich acht Tage von Berlin bis nach Hause.“Er hatte nichts außer das nackte Leben.

Zu Hause lernte er das Schmiedeha­ndwerk, machte seine Gesellenpr­üfung bei Porsche in Stuttgart. Als er später seine Frau Sieglinde beim Wandern kennenlern­t, ziehen die beiden zuerst nach Augsburg und dann nach Gersthofen. Bis zu seiner Rente war er bei der Firma Spiess in Gersthofen Hausmeiste­r und Chauffeur. „Ich hatte nie einen Unfall, privat und geschäftli­ch nicht“, berichtet er stolz. Mit seiner Frau ist er gerne gereist.

Eine Heimmitarb­eiterin läuft an ihm vorbei, grüßt kurz und freut sich. Dann geht sie weiter und winkt noch zum Abschied. Oefele lächelt und winkt freudig zurück.

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Foto: Marcus Merk Paul Oefele aus Gersthofen genießt in seinem 95. Lebensjahr nach einer dreiwöchig­en Corona Quarantäne wieder seine Frei‰ heit.
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Foto: Diana Zapf‰Deniz „Zum Andenken an meine Rekrutenze­it“steht auf der Fotokarte, die Paul Oefele am 1. Mai 1944 in Dänemark in Ølgod anfertigen ließ.
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SAMSTAG, 30. JANUAR 2021

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