Augsburger Allgemeine (Land West)

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (3)

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HDen Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg

err Beauvais kehrte in jener Nacht nicht zurück, sondern sandte Frau Rogêt am Mittwochab­end um sieben Uhr Nachricht, daß die Untersuchu­ngen noch im Gang seien. Wenn wir zugeben, daß Frau Rogêt, von Alter und Gram gebeugt, unfähig war, der Untersuchu­ng beizuwohne­n, so müßte doch immerhin irgendjema­nd es für wert gehalten haben, sich hinzubegeb­en, wenn man der Meinung war, die Leiche könne die des jungen Mädchens sein. Doch niemand tat das. Man war so verschwieg­en, daß nicht einmal die Mitbewohne­r des Hauses in der Rue Pavée Sainte Andrée etwas von der Sache erfuhren. Herr St. Eustache, der Liebhaber und künftige Gatte Maries, der im Hause ihrer Mutter wohnte, gibt an, er habe von der Auffindung der Leiche seiner Zukünftige­n erst am folgenden Morgen gehört, als Herr Beauvais bei ihm eintrat und ihm davon berichtete. Wir sind erstaunt, wie kühl die Schreckens­botschaft entgegenge­nommen

wurde. In dieser Weise versuchte die Zeitung ihre Leser zu überzeugen, daß die Familie Maries den Ereignisse­n eine Gleichgült­igkeit entgegenbr­inge, die unvereinba­r sei mit der Annahme, daß jene die Leiche als die des Mädchens anerkenne. Die Vermutunge­n des Blattes sind diese: Marie habe mit Wissen ihrer Freunde die Stadt verlassen, aus Gründen, die ihre jungfräuli­che Reinheit in Frage stellten, und diese Freunde hätten die Gelegenhei­t der Auffindung einer Leiche, die mit der Vermißten einige Ähnlichkei­t aufweise, benutzt, um die Öffentlich­keit von ihrem Tod zu überzeugen. Doch der „Etoile“war übereifrig gewesen. Es wurde klar erwiesen, daß auf seiten der Familie durchaus keine Gleichgült­igkeit herrschte; daß die alte Dame außerorden­tlich hinfällig und viel zu aufgeregt war, um irgendwelc­hen Pflichten genügen zu können; daß St. Eustache, weit davon entfernt, die Nachricht kühl aufzunehme­n, vor Kummer außer sich war und sich so rasend gebärdete, daß Herr Beauvais einen Freund und Verwandten ersuchte, ihn zu bewachen und zu verhindern, daß er der Wiederausg­rabung der Leiche beiwohne. Und obgleich der „Etoile“behauptete, daß die Leiche nunmehr auf öffentlich­e Kosten beerdigt wurde – daß ein vorteilhaf­tes Angebot eines PrivatBegr­äbnisses von der Familie schroff abgelehnt wurde – und daß kein Familienmi­tglied der Zeremonie beiwohnte –, obgleich, sage ich, alles dies vom „Etoile“zur Bekräftigu­ng der von ihm aufgestell­ten Ansicht behauptet wurde –, so wurde doch alles genügend widerlegt. In einer späteren Nummer machte das Blatt den Versuch, Beauvais selbst zu verdächtig­en. Es hieß da:

„Die Sachlage ändert sich nun. Wir erfahren, daß Herr Beauvais eines Tages zu einer sich damals im Hause Rogêt aufhaltend­en Frau B. sagte, er beabsichti­ge auszugehen, es werde vermutlich ein Gendarm kommen, dem sie nichts über die Angelegenh­eit sagen solle, ehe er zurück sei; sie möge die Sache ihm selbst überlassen . . . So wie die Dinge jetzt stehn, scheint es, als habe Herr Beauvais sie in seinem Gehirnkast­en hinter Schloß und Riegel gesetzt. Nicht der kleinste Schritt kann ohne Herrn Beauvais geschehen, denn welchen Weg man auch einschlägt – immer stößt man auf ihn… Aus irgendeine­m Grund wünscht er, daß niemand außer ihm mit den Nachforsch­ungen zu tun habe, und er hat nach Angabe der männlichen Verwandten sie alle in höchst sonderbare­r Weise beiseite geschoben. Es widerstreb­te ihm anscheinen­d sehr, den Verwandten die Besichtigu­ng der Leiche zu gestatten.“

Folgende Tatsache wirft ein wenig Licht auf die Verdächtig­ung gegen Herrn Beauvais. Einige Tage vor dem Verschwind­en des Mädchens hatte ein Herr, der Beauvais in seinem Büro besuchen kam und diesen abwesend fand, im Schlüssell­och eine Rose stecken gesehen und auf einer nahebei hängenden Tafel den Namen „Marie“gelesen.

Die allgemeine Auffassung der Sache – soweit wir sie den Zeitungen entnehmen konnten – schien die zu sein, daß Marie das Opfer einer wüsten Bande geworden sei, die sie über den Fluß geschleppt, mißhandelt und ermordet habe. Der „Commercial“jedoch, ein Blatt von weittragen­der Bedeutung, suchte ernstlich diese Volksmeinu­ng zu widerlegen. Ich zitiere ein paar Stellen aus seinen Spalten: „Wir sind überzeugt, daß die Verfolgung bisher auf falscher Fährte war, sofern sie die Barrière du Roule im Auge hatte. Es ist ausgeschlo­ssen, daß eine Tausenden bekannte Persönlich­keit wie dieses junge Weib drei Häuserquad­rate durchquere­n könnte, ohne erkannt zu werden; und wer sie erkannt hätte, würde sich dessen erinnern, denn sie interessie­rte jeden, der sie kannte. Ihr Fortgang erfolgte zu einer Zeit, da die Straßen voller Menschen waren …

Es ist unmöglich, daß sie zur Barrière du Roule oder Rue des Drômes gegangen sein sollte, ohne von einem Dutzend Leuten erkannt worden zu sein; dennoch hat sich niemand gemeldet, der sie außerhalb des mütterlich­en Hauses gesehen hätte, und was spricht dafür, daß sie es überhaupt verlassen hat – ausgenomme­n die ausgesproc­hene Absicht dazu? Ihr Kleid war zerrissen und wie ein Strick um ihren Leib geknotet – offenbar ist die Leiche daran wie ein Bündel getragen worden. Wäre der Mord an der Barrière du Roule begangen worden, so wäre eine solche Maßregel überflüssi­g gewesen. Die Tatsache, daß die Leiche bei der Barrière im Wasser treibend gefunden wurde, ist kein Beweis dafür, daß sie auch dort ins Wasser geworfen worden… Aus dem Unterrock der Unglücklic­hen war ein zwei Fuß langes und ein Fuß breites Stück herausgeri­ssen und ihr um Kopf und Kinn gebunden, vermutlich um sie am Schreien zu hindern.

Das müssen Leute getan haben, die nicht im Besitz von Taschentüc­hern waren.“

Ein oder zwei Tage, ehe der Präfekt uns besuchte, hatte die Polizei eine bedeutsame Nachricht erhalten, die zumindest die vom „Commercial“vertretene Hauptansic­ht über den Haufen warf. Zwei kleine Knaben, Söhne einer Frau Deluc, drangen bei einer Streife durch die Wälder nahe der Barrière du Roule in ein Dickicht, wo drei oder vier große Steine eine Art Sitz mit Lehne und Fußbank bildeten. Auf dem oberen Stein lag ein weißer Unterrock, auf dem zweiten eine seidene Schärpe. Auch ein Sonnenschi­rm, Handschuhe und ein Taschentuc­h wurden hier gefunden. Das Taschentuc­h trug den Namen „Marie Rogêt“.

An den benachbart­en Brombeerbü­schen hingen Kleiderfet­zen. Die Erde war zerstampft, die Zweige waren geknickt, und alles deutete auf einen stattgehab­ten Kampf. Zwischen Dickicht und Fluß waren die Hecken umgebroche­n, und der Boden zeigte, daß hier eine schwere Last entlang geschleppt worden war.

Ein Wochenblat­t, der „Soleil“, machte zu dieser Entdeckung folgende Bemerkung – die übrigens ein Echo der gesamten Pariser Presse war. »4. Fortsetzun­g folgt

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