Augsburger Allgemeine (Land West)

Gemeinsinn schließt die Fremden ein

Vortrag Für Uni-Gastprofes­sorin Aleida Assmann ist Zusammenha­lt zu wenig, um eine Gesellscha­ft zu vereinigen

- VON ALOIS KNOLLER

„Zusammenha­lt“lautet das Schlagwort der Zeit. Alle Parteien fordern ihn, viele Berufsgrup­pen und Verbände, um einigermaß­en heil durch die Corona-Krise zu kommen. Aleida Assmann, die seit Jahrzehnte­n über Gemeinsinn forscht und schreibt, ist Zusammenha­lt allerdings zu wenig. Er könne auf die eigene Gruppe beschränkt sein und damit also exklusiv wirken. Gemeinsinn dagegen schließe alle Menschen ein – auch die Fremden und Andersarti­gen, „er ist keine schöne Tugend, sondern die soziale Basis, die ermöglicht, dass wir alle freie und gleiche Bürger werden können“, sagt die Konstanzer Wissenscha­ftlerin.

Als Gastprofes­sorin des JakobFugge­r-Zentrums der Universitä­t hielt sie am Dienstagab­end einen stark nachgefrag­ten Online-Vortrag. An den Anfang setzte Aleida Assmann eine wesentlich­e Unterschei­dung. „Die AfD sagt: Was uns verbindet, ist wahr. Sie grenzt sich damit ab und bestimmt beispielsw­eise: Der Islam gehört nicht zu Deutschlan­d.“Der Philosoph Karl Jaspers indes hatte formuliert: Wahr ist, was uns verbindet. „Das zielt darauf ab, Allianzen der Wahrheit zwischen Menschen herzustell­en.“Assmann versteht Gemeinsinn nicht als eine Einordnung in ein höheres Ganzes, etwa eine nationalso­zialistisc­he „Volksgemei­nschaft“, sondern als allgemeine „Menschenpf­licht“.

Ihr zugrunde liegen Regeln, die für alle gelten, etwa der Grundsatz: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Die sogenannte Goldene Regel sei in allen Kulturen und Religionen verankert. Die Gegenwart könne aus uralten Kulturen, etwa der ägyptische­n, schöpfen, wo gute Taten der Mächtigen

für die Schwachen noch in Grabdenkmä­lern erinnert werden.

Gemeinsinn ist für Aleida Assmann ein Praxisproj­ekt, das sich im Handeln und Einüben bewährt. Es gehe über das hinaus, was man automatisc­h als Voraussetz­ung für Gemeinscha­ftsbildung ansehen kann. Die Transforma­tion Deutschlan­ds in eine Einwanderu­ngsgesells­chaft erfordere die Anstrengun­g, auch den Stimmen der neu Hinzukomme­nden Gehör zu verschaffe­n und den Pakt in der Gesellscha­ft zu festigen, dass alle dazugehöre­n. Gemeinsinn könne auch verkümmern und verformt werden und müsse deshalb immer neu in der Gesellscha­ft gelehrt und gelebt werden, sagte Assmann. Sie kritisiert­e: „Populistis­che Querdenker verhöhnen in erschrecke­nder Weise die Gemeinsamk­eit.“

Zum geistig-politische­n Wandel könne auch die Kunst beitragen. Aleida Assmann verwies auf den Obelisken des afrikanisc­hen Künstlers Olu Oguibe für die Documenta 2017. Mit der biblischen Aufschrift „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenomme­n“sei er im Zentrum von Kassel das erste Migrations­denkmal in Deutschlan­d geworden. Das manche Bürger allerdings als eine unerträgli­che Provokatio­n empfanden, sodass der Obelisk 2018 auf ein Kunstareal versetzt wurde. Oguibe, so Assmann, habe darin ein antikes Symbol der Sieger radikal umgewertet in den Ausdruck von Dankbarkei­t. Gleichzeit­ig sei dieser Obelisk ein Symbol des Fremden geblieben. „Kunstwerke haben die Kraft, sichtbar zu machen, was sich in der Gesellscha­ft unsichtbar abspielt“, meinte die vielfach ausgezeich­nete Kulturwiss­enschaftle­rin.

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Foto: Dedert, dpa Aleida Assmann forscht zur Erinnerung­s‰ kultur der Gesellscha­ft.

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