Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Isolation im Lockdown schützt die Schläger
Soziales Die Polizei verzeichnet seit einem Jahr deutlich weniger Anzeigen wegen häuslicher Gewalt. Experten warnen: Das heißt aber nicht, dass weniger Frauen und Kinder misshandelt werden
Landkreis Augsburg Weil er seine Frau mit einer Eisenstange verprügelt und in den Bauch getreten hat, wurde kürzlich ein Mann zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Auch den Sohn hat er gewürgt. Einer der Fälle von häuslicher Gewalt, wie sie während der Pandemie immer seltener ans Licht der Öffentlichkeit kommen.
Als Opferschutzbeauftragte der Augsburger Kripo befasst sich Sabine Rochel seit Jahren mit häuslicher Gewalt. Während der Corona-Pandemie ist eine neue Situation eingetreten: Die Zahl der Anzeigen ging deutlich wie nie zurück. Für Rochel ist das aber kein Grund zur Freude. Denn sie befürchtet, dass Frauen und Kinder zuhause noch mehr gefährdet sein könnten als sonst.
„Wo es häusliche Gewalt gibt, braucht es meistens einen Anstoß von außen, damit die Opfer aktiv werden und Anzeige erstatten. Diese Impulse von außen, die Kontakte, fehlen derzeit“, erklärt die Kripobeamtin. Das schlägt sich in den Zahlen nieder.
Das Polizeipräsidium SchwabenNord ist für knapp 900.000 Einwohner zuständig und verzeichnete im Jahr 2020 rund 1400 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt. 2019 waren es rund 100 mehr. Noch deutlicher zeigt sich der Rückgang im Monatsvergleich: Demnach sind vor dem Lockdown im Januar 2019 noch 133 Fälle von häuslicher Gewalt zur Anzeige gebracht worden. In diesem Januar 2021 waren es 72, nur gut die Hälfte.
Dass die Anzeigen während Corona rückläufig waren, erklärt Rochel so: „Die Isolation macht es für die Opfer noch viel schwieriger, rauszukommen aus der missbräuchlichen Beziehung.“Die Betroffenen sind meist zuhause und haben weniger Gelegenheit, sich zu äußern und sich jemandem anzuvertrauen. Oftmals sind es Menschen aus dem näheren Umfeld – aus Kita und Schule oder am Arbeitsplatz – die fragen, ob etwas nicht stimmt. Erst dann wagen viele Frauen, zur Polizei zu gehen.
Dann kann es sein, dass der gewalttätige Partner die Wohnung verlassen muss. „Aber das sind rechtliche Schritte, vor denen viele zurückschrecken“, sagt die Kripobeamtin. Koffer packen und gehen ist da einfacher. Aber wohin? Das ist bei der derzeitigen Wohnungsnot die bange Frage, die sich die Opfer dann stellen.
Bleibt noch das Frauenhaus. Hier gebe es aber eine schmerzhafte Versorgungslücke, wie Rochel weiß: Dem Frauenhaus werden die Kos
für Frauen ohne Beschäftigung aus dem EU-Ausland, die hier keine Sozialleistungen beziehen können, nicht erstattet und sie müssen deshalb manchmal Frauen abweisen.
Die Frauen, die dringender denn je Unterstützung benötigen, würden vom Hilfesystem im Stich gelassen. Bis diese Lücke im Sozialsystem durch den Bund geschlossen ist, muss der Träger des Frauenhauses im Einzelfall sehen, woher er sein Geld bekommt.
Viele Fälle von häuslicher Gewalt bleiben ohnehin unbemerkt. Schätzungen zufolge bildet die Zahl der Anzeigen nur 20 Prozent des tatsächlichen Geschehens ab – das Dunkelfeld beträgt etwa 80 Prozent. Aufs Jahr gerechnet wären das im Bereich des Polizeipräsidiums Schwaben-Nord theoretisch rund 7200 Fälle – rund 140 pro Woche.
Gerade im Lockdown läuft vieles hinter verschlossenen Türen ab, befürchten die Behörden. „Es ist doch ganz logisch: Derzeit haben viele Frauen keine Arbeit, kein Einkommen.
Eine Wohnung finden sie deshalb nicht, oftmals haben sie noch Kinder“, sagt Rochel. Sie ist froh, dass die Träger der Jugendhilfe und die Erziehungsberatung zumindest jene Familien mit Konflikten im Blick haben, die sie schon kennen. Aber auch hier bleibt in der Pandemie vieles unbemerkt.
Rund 300 Familien im Landkreis Augsburg erhalten derzeit Unterstützung vom Jugendamt, erklärt dessen Leiter Hannes Neumeier. Die Helfer seien auch während des Lockdowns im engen Austausch mit den Familien, es gebe Videokonferenzen und persönliche Gespräche bei Spaziergängen. Die Kinder können die Notbetreuung in Schule oder Kita besuchen, auch wenn die Eltern nicht in systemrelevanten Berufen arbeiten. „Wir können unsere Arbeit in den Familien relativ gut weiterführen“, sagt Neumeier.
Anders sieht es aus, wenn die Familien noch keine Hilfe von außen erhalten. Dann bleibt vieles unbemerkt – ein Problem, dass die Corona-Krise offenbar verstärkt hat. So verzeichnete das Jugendamt im vergangenen Jahr 243 Meldungen wegen Gefährdung des Kindeswohls. 2019 lag die Zahl mit 275 Meldungen zwar etwas höher. Doch Neumeier erklärt: „Die meisten Meldungen bekommen wir von Schutzinstitutionen wie Kitas oder Schulen. Aber wegen des Lockdowns sind die Kinder nicht vor Ort.“Was während dieser Zeit in den Familien passiert ist, komme erst raus, wenn die Kinder wieder in den Einrichtungen sind. „Ohne dieses Meldeten system können wir schwer reagieren“, sagt Neumeier.
Doch er ist auch überzeugt: „Wir haben im Landkreis eine gute Infrastruktur, um Familien zu unterstützen.“Die acht Familienbüros sind auch während des Lockdowns erreichbar, denn der Beratungsbedarf sei enorm. Wegen der Corona-Krise hätten viele Eltern mit existenziellen Ängsten zu kämpfen. „Sie kommen an ihre Grenzen und sind überlastet“, sagt Neumeier.
Das treffe auch Familien, in denen es zuvor gut lief. Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit sowie die räumliche Enge würden die Situation erschweren. „Dieses Gebräu aus existenzieller Sorge, psychischer Angeschlagenheit und in einigen Fällen auch Drogenkonsum kann zur Gefahr für die Kinder und die ganze Familie werden“, sagt Neumeier. Im besten Fall suchen die Eltern vorher Hilfe.
Doch teilweise sind es die Jugendlichen selbst, die sich bei Polizei oder Jugendamt melden, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten. Sie machen einen Großteil der Inobhutnahmen aus, von denen das Jugendamt im vergangenen Jahr 52 verzeichnete – und damit etwas weniger als 2019, als 73 Fälle registriert wurden.
Gerade Jugendliche sind nach
Ansicht von Neumeier in der ersten Corona-Welle vergessen worden. Denn mit dem Lockdown seien wichtige Strukturen weggebrochen. „Die Folgen werden sich nicht nur im Bildungssystem, sondern auch in der sozialen Entwicklung niederschlagen“, sagt Jugendamtsleiter Neumeier.