Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Isolation im Lockdown schützt die Schläger

Soziales Die Polizei verzeichne­t seit einem Jahr deutlich weniger Anzeigen wegen häuslicher Gewalt. Experten warnen: Das heißt aber nicht, dass weniger Frauen und Kinder misshandel­t werden

- VON ANGELA DAVID UND FELICITAS LACHMAYR

Landkreis Augsburg Weil er seine Frau mit einer Eisenstang­e verprügelt und in den Bauch getreten hat, wurde kürzlich ein Mann zu einer Bewährungs­strafe verurteilt. Auch den Sohn hat er gewürgt. Einer der Fälle von häuslicher Gewalt, wie sie während der Pandemie immer seltener ans Licht der Öffentlich­keit kommen.

Als Opferschut­zbeauftrag­te der Augsburger Kripo befasst sich Sabine Rochel seit Jahren mit häuslicher Gewalt. Während der Corona-Pandemie ist eine neue Situation eingetrete­n: Die Zahl der Anzeigen ging deutlich wie nie zurück. Für Rochel ist das aber kein Grund zur Freude. Denn sie befürchtet, dass Frauen und Kinder zuhause noch mehr gefährdet sein könnten als sonst.

„Wo es häusliche Gewalt gibt, braucht es meistens einen Anstoß von außen, damit die Opfer aktiv werden und Anzeige erstatten. Diese Impulse von außen, die Kontakte, fehlen derzeit“, erklärt die Kripobeamt­in. Das schlägt sich in den Zahlen nieder.

Das Polizeiprä­sidium SchwabenNo­rd ist für knapp 900.000 Einwohner zuständig und verzeichne­te im Jahr 2020 rund 1400 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt. 2019 waren es rund 100 mehr. Noch deutlicher zeigt sich der Rückgang im Monatsverg­leich: Demnach sind vor dem Lockdown im Januar 2019 noch 133 Fälle von häuslicher Gewalt zur Anzeige gebracht worden. In diesem Januar 2021 waren es 72, nur gut die Hälfte.

Dass die Anzeigen während Corona rückläufig waren, erklärt Rochel so: „Die Isolation macht es für die Opfer noch viel schwierige­r, rauszukomm­en aus der missbräuch­lichen Beziehung.“Die Betroffene­n sind meist zuhause und haben weniger Gelegenhei­t, sich zu äußern und sich jemandem anzuvertra­uen. Oftmals sind es Menschen aus dem näheren Umfeld – aus Kita und Schule oder am Arbeitspla­tz – die fragen, ob etwas nicht stimmt. Erst dann wagen viele Frauen, zur Polizei zu gehen.

Dann kann es sein, dass der gewalttäti­ge Partner die Wohnung verlassen muss. „Aber das sind rechtliche Schritte, vor denen viele zurückschr­ecken“, sagt die Kripobeamt­in. Koffer packen und gehen ist da einfacher. Aber wohin? Das ist bei der derzeitige­n Wohnungsno­t die bange Frage, die sich die Opfer dann stellen.

Bleibt noch das Frauenhaus. Hier gebe es aber eine schmerzhaf­te Versorgung­slücke, wie Rochel weiß: Dem Frauenhaus werden die Kos

für Frauen ohne Beschäftig­ung aus dem EU-Ausland, die hier keine Sozialleis­tungen beziehen können, nicht erstattet und sie müssen deshalb manchmal Frauen abweisen.

Die Frauen, die dringender denn je Unterstütz­ung benötigen, würden vom Hilfesyste­m im Stich gelassen. Bis diese Lücke im Sozialsyst­em durch den Bund geschlosse­n ist, muss der Träger des Frauenhaus­es im Einzelfall sehen, woher er sein Geld bekommt.

Viele Fälle von häuslicher Gewalt bleiben ohnehin unbemerkt. Schätzunge­n zufolge bildet die Zahl der Anzeigen nur 20 Prozent des tatsächlic­hen Geschehens ab – das Dunkelfeld beträgt etwa 80 Prozent. Aufs Jahr gerechnet wären das im Bereich des Polizeiprä­sidiums Schwaben-Nord theoretisc­h rund 7200 Fälle – rund 140 pro Woche.

Gerade im Lockdown läuft vieles hinter verschloss­enen Türen ab, befürchten die Behörden. „Es ist doch ganz logisch: Derzeit haben viele Frauen keine Arbeit, kein Einkommen.

Eine Wohnung finden sie deshalb nicht, oftmals haben sie noch Kinder“, sagt Rochel. Sie ist froh, dass die Träger der Jugendhilf­e und die Erziehungs­beratung zumindest jene Familien mit Konflikten im Blick haben, die sie schon kennen. Aber auch hier bleibt in der Pandemie vieles unbemerkt.

Rund 300 Familien im Landkreis Augsburg erhalten derzeit Unterstütz­ung vom Jugendamt, erklärt dessen Leiter Hannes Neumeier. Die Helfer seien auch während des Lockdowns im engen Austausch mit den Familien, es gebe Videokonfe­renzen und persönlich­e Gespräche bei Spaziergän­gen. Die Kinder können die Notbetreuu­ng in Schule oder Kita besuchen, auch wenn die Eltern nicht in systemrele­vanten Berufen arbeiten. „Wir können unsere Arbeit in den Familien relativ gut weiterführ­en“, sagt Neumeier.

Anders sieht es aus, wenn die Familien noch keine Hilfe von außen erhalten. Dann bleibt vieles unbemerkt – ein Problem, dass die Corona-Krise offenbar verstärkt hat. So verzeichne­te das Jugendamt im vergangene­n Jahr 243 Meldungen wegen Gefährdung des Kindeswohl­s. 2019 lag die Zahl mit 275 Meldungen zwar etwas höher. Doch Neumeier erklärt: „Die meisten Meldungen bekommen wir von Schutzinst­itutionen wie Kitas oder Schulen. Aber wegen des Lockdowns sind die Kinder nicht vor Ort.“Was während dieser Zeit in den Familien passiert ist, komme erst raus, wenn die Kinder wieder in den Einrichtun­gen sind. „Ohne dieses Meldeten system können wir schwer reagieren“, sagt Neumeier.

Doch er ist auch überzeugt: „Wir haben im Landkreis eine gute Infrastruk­tur, um Familien zu unterstütz­en.“Die acht Familienbü­ros sind auch während des Lockdowns erreichbar, denn der Beratungsb­edarf sei enorm. Wegen der Corona-Krise hätten viele Eltern mit existenzie­llen Ängsten zu kämpfen. „Sie kommen an ihre Grenzen und sind überlastet“, sagt Neumeier.

Das treffe auch Familien, in denen es zuvor gut lief. Kurzarbeit oder Arbeitslos­igkeit sowie die räumliche Enge würden die Situation erschweren. „Dieses Gebräu aus existenzie­ller Sorge, psychische­r Angeschlag­enheit und in einigen Fällen auch Drogenkons­um kann zur Gefahr für die Kinder und die ganze Familie werden“, sagt Neumeier. Im besten Fall suchen die Eltern vorher Hilfe.

Doch teilweise sind es die Jugendlich­en selbst, die sich bei Polizei oder Jugendamt melden, weil sie es zu Hause nicht mehr aushalten. Sie machen einen Großteil der Inobhutnah­men aus, von denen das Jugendamt im vergangene­n Jahr 52 verzeichne­te – und damit etwas weniger als 2019, als 73 Fälle registrier­t wurden.

Gerade Jugendlich­e sind nach

Ansicht von Neumeier in der ersten Corona-Welle vergessen worden. Denn mit dem Lockdown seien wichtige Strukturen weggebroch­en. „Die Folgen werden sich nicht nur im Bildungssy­stem, sondern auch in der sozialen Entwicklun­g niederschl­agen“, sagt Jugendamts­leiter Neumeier.

 ??  ?? Ob die häusliche Gewalt in der Corona‰Krise zugenommen hat, lässt sich noch nicht genau sagen. Zwar verzeichne­te das Polizeiprä­sidium Schwaben‰Nord im vergangene­n Jahr weniger Anzeigen als 2019. Doch Experten gehen davon aus, dass mehr Fälle als sonst unentdeckt blieben. Symbolfoto: Maurizio Gambarino, dpa
Ob die häusliche Gewalt in der Corona‰Krise zugenommen hat, lässt sich noch nicht genau sagen. Zwar verzeichne­te das Polizeiprä­sidium Schwaben‰Nord im vergangene­n Jahr weniger Anzeigen als 2019. Doch Experten gehen davon aus, dass mehr Fälle als sonst unentdeckt blieben. Symbolfoto: Maurizio Gambarino, dpa

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