Augsburger Allgemeine (Land West)
Was es mit dem gelben Turm auf sich hat
Stadtgeschichte Das historische Bauwerk in der Provinostraße fällt neben den mächtigen Wohnblöcken kaum auf. Dennoch fragt sich so mancher Passant, warum es dort steht. Wie sich ein einstiger Unternehmer einen Traum erfüllte
Krasser könnte dieser Kontrast kaum sein: Inmitten von mehrstöckigen Wohnblöcken zwischen Provinostraße und Schwibbogenplatz steht ein gelber, historischer Turm mit Zinnen. Das Türmchen wirkt wie aus einem Märchen in die heutige Zeit gefallen. Das mag auch an dem bronzenen Drachen liegen, der angriffslustig auf dem Geländer des Turmes sitzt. Die Flügel sind gespannt, sein Maul ist weit aufgerissen.
Es ist rund 30 Jahre her, dass ein ehemaliger Augsburger Unternehmer den Turm vor dem Verfall bewahrt hat. Heinz Heberle, einst Geschäftsführer des Autowasch- und Aufzugstechnikunternehmens Kleindienst mit über 1000 Mitarbeitern, kaufte damals den gelben Turm. „Es war schon immer ein Traum von mir, einen Turm zu besitzen“, erzählt der 87-Jährige. Der Weg zur Erfüllung seines Traums war dabei gar nicht märchenhaft, er war ganz banal.
Seine Frau habe eines Tages in der Augsburger Allgemeinen eine Anzeige entdeckt, in der das Bauwerk zum Verkauf angeboten wurde. „Es gab damals 45 Bewerber.“Heinz Heberle wollte den Turm unbedingt ergattern. „Ich bot an, ihn so zu kaufen, wie er da stand. Die anderen Interessenten hingegen verlangten bauwerkliche Untersuchungen vor einem Kauf.“Denn der Turm war in keinem guten Zustand. Das Dach war beschädigt, das gesamte Konstrukt schien baufällig. Der Senior schmunzelt, wenn er zurückdenkt. „Meine Frau wollte wissen, warum und für was ich unbedingt diesen Turm will.“
Heberle, ein geselliger Mensch, stellte ihn sich als Rückzugsort vor, wo man mit Freunden gemütlich beisammen sitzen kann. Er erhielt den Zuschlag und ließ den Turm sanieren. „Das Denkmalamt zeigte sich froh darüber, dass der Turm, der keinen hohen Denkmalwert hat, so vor dem Verfall bewahrt wurde.“Auf der massiven Holztreppe, die sich im Turm am Mauerwerk entlang schlängelt, muss man 62 Stufen nach oben gehen, um in die oberste, dritte Etage zu gelangen. Dort bieten ein Tisch, eine Sitzbank und Stühle gemütlich Platz. Am besten ist, man hat nicht vergessen, die Getränke aus der Bar im Erdgeschoss mit nach oben zu nehmen. Heberle denkt gerne an die Zeit zurück, als seine Frau noch lebte und sie gemeinsam mit Freunden in der Turmstube feierten oder mit den Kindern zusammen saßen.
„Gerade zur Weihnachtszeit war das sehr romantisch.“Seine Frau habe anfangs Sorge gehabt, dass die alte Treppe zusammenbrechen könnte. Der stolze Turmbesitzer ließ sicherheitshalber einen Zimmermeister die Treppe begutachten. „Er sagte, sie ist so toll konstruiert. Je mehr sie belastet wird, desto mehr verkeilen sich die Holzstufen ineinander.“Wer auch immer den Turm vor über 250 Jahren erbaut hatte, er hatte sich was dabei gedacht. Das Bauwerk hatte damals eine besondere Funktion.
Wo heute die Mietblöcke in der Provinostraße stehen, war im 18. Jahrhundert eine Parkanlage zu finden. Wie in dem Buch „111 Orte in Augsburg, die man gesehen haben muss“zu lesen ist, hatte der Chemiker Johann Caspar Schaur den großen Garten vor den Mauern der Stadt anlegen lassen. Daneben grenzte eine Destillieranstalt an, wo er einen Balsam herstellte. Das gelbe Türmchen war für den Unternehmer wichtig. Als Wasserturm speiste es die vielen Springbrunnen im Park. Später, zur Hochzeit der Augsburger Textilindustrie, wurde aus dem ehemaligen Gartenpalais eine Direktorenvilla und das Türmchen erhielt einen Zinnenabschluss, so steht es in dem Buch, in dem der gelbe Turm als Sehenswürdigkeit empfohlen wird.
Heinz Heberle hat mit viel Liebe und Fantasie das Bauwerk herrichten lassen. Stolz ist er auf das Glockenspiel im Turm, das rund 90 bekannte Melodien spielen kann. Oder auf den König Ludwig aus Holz, der im Eingangsbereich Rosen auf Gäste regnen lassen kann. Heberles Cousin, Rainer Petrak, ist nämlich ein findiger Tüftler. Der inzwischen 76-Jährige baute an der Decke des Erdgeschosses eine Art MiniaturSeilbahnkonstruktion. König Ludwig fährt als kleine, hölzerne Figur in einem Schwan daran entlang, an dem eine Klappe aufgeht und kleine Kunstblumen herabregnen. Heberle mag solche Spielereien.
„König Ludwig wollte einst über dem Alpsee eine Seilbahn bauen lassen“, weiß der Augsburger. Doch der Märchenkönig habe die Idee nie verwirklicht. Umso märchenhafter mutet dieser gelbe Rapunzel-Turm am Rande der Innenstadt an. Bewacht wird er von einem Drachen, der sich außen am Turm auf dem Geländer festkrallt. Heberle hatte die Replik für seinen Turm erworben. Allerdings hat er ihn auf Bitten eines Anwohners aus dem Wohnblock etwas versetzen lassen. Denn der Mann hatte sich offenbar beim Blick aus dem Fenster während des morgendlichen Yogas von dem bronzenen Ungeheuer gestört gefühlt.