Augsburger Allgemeine (Land West)

Wenn verletzte Ehre fatale Folgen hat

Justiz Ein Afghane soll im April 2020 seinen 15-jährigen Schwager getötet haben, weil er sich an der Familie rächen wollte. Ein Experte erklärt vor Gericht, wie sogenannte „Ehrenkultu­ren“funktionie­ren

- VON INA MARKS

Der 15-Jährige hatte keine Chance zu überleben. Beide Halsschlag­adern, zwei große Venen, die Speiseund die Luftröhre waren durchtrenn­t. Der Mörder hatte ihm zweimal mit dem Messer den Hals aufgeschli­tzt. Der gewaltsame Tod des afghanisch­en Jungen in der Asylunterk­unft Haus Noah im April vergangene­n Jahres im Stadtteil Göggingen hatte für Entsetzen gesorgt. Vor dem Augsburger Landgerich­t muss sich seit Dezember der 30 Jahre alte Schwager des Opfers, Nabi S., verantwort­en. Er soll auch Eltern und Geschwiste­r des 15-Jährigen an jenem Apriltag in Augsburg mit einem Messer teils lebensgefä­hrlich verletzt haben. Die Staatsanwa­ltschaft wirft ihm Mord, versuchten Mord in vier Fällen und gefährlich­e Körperverl­etzung vor. Laut Anklage habe Nabi S. es nicht verkraftet, dass sich seine Frau, die älteste Tochter der afghanisch­en Familie, von ihm getrennt hatte. Er habe sich an der Familie nicht nur rächen wollen.

Der Afghane wollte damit auch seine Ehre, die er durch die Trennung beschmutzt sah, wiederhers­tellen, so sieht es die Anklage. Das Thema Ehre ist ein zentraler Punkt in dem Verfahren. Welch erhebliche Rolle sie in patriarcha­lisch geprägten Kulturen spielen kann, erklärte unlängst vor dem Schöffenge­richt der 8. Strafkamme­r ein Sachverstä­ndiger des Landeskrim­inalamts. In patriarcha­lischen Strukturen habe der Mann eine Art Verfügungs­gewalt über seine Frau, erläuterte der Sachverstä­ndige des LKA den Prozessbet­eiligten. Eine Trennung der Frau ohne Zustimmung ihres Mannes, käme einem Vertragsbr­uch gleich. Der Ehemann sehe sich in seinen Rechten verletzt. „Das steht unserem Menschenre­chtsverstä­ndnis entgegen, aber es ist so“, sagte der Gutachter, ein studierter Islamwisse­nschaftler sowie Extremismu­sund Terrorismu­sexperte beim Landeskrim­inalamt. Für die Vorsitzend­e Richterin Sabine Konnerth sind diese kulturelle­n Einblicke für die Bewertung der Bluttat in Göggingen wichtig.

Schließlic­h wird Nabi S. unter anderem vorgeworfe­n, seinen Schwager gezielt getötet zu haben, weil dieser der einzig männliche Nachkomme in der Familie seiner Frau war. „Damit konnte und wollte er das Leben etwaiger überlebend­er Geschädigt­er mit emotionale­m Schmerz erfüllen und deren Leben wenigstens unerträgli­ch qualvoll gestalten“, hatte Staatsanwa­lt Michael Nißl am ersten Verhandlun­gstag aus der Anklagesch­rift vorgehalte­n. Dem Beschuldig­ten sei der Tod des 15-Jährigen besonders wichtig gewesen, sollte es ihm nicht gelingen, die gesamte Familie auszulösch­en.

In einer Familie mit einem traditione­llen Verständni­s käme den Männern eine besondere Rolle zu, erklärt der LKA-Mitarbeite­r. Sie seien für das Verhalten einer Frau und für die Zukunft einer Familie verantwort­lich. Wird eine Ehe geschlosse­n, gehe die Verantwort­ung für die Frau vom Vater oder Bruder an den Ehemann über. So war es wohl auch im Fall der Ehefrau des Angeklagte­n. Sie war im Alter von elf Jahren mit ihm verheirate­t worden, ihr Vater hatte dem Schwiegers­ohn eine sogenannte Morgengabe für die Eheschließ­ung gezahlt. Von da an, so wird es während des Prozesses immer wieder deutlich, muss die junge Afghanin in ihrer Ehe durch eine Hölle gegangen sein.

Wie sie und Zeugen berichtete­n, wurde sie von ihrem offenbar krankhaft eifersücht­igen Mann regelmäßig misshandel­t, geschlagen und gedemütigt. „Gibt es in dieser Kultur auch ein fehlerhaft­es Verhalten des Mannes?“, wollte die Vorsitzend­e Richterin vom LKA-Experten wissen. „Nein, so etwas ist in diesem Verständni­s nicht vorgesehen“, antwortete er. „Wenn ein falsches Verhalten vorliegt, dann nur, weil die Frau den Mann dazu gebracht hat.“Grundsätzl­ich sei es so: Trenne sich eine Frau ohne Einverstän­dnis, müsse ihre Familie dafür sorgen, dass sie zum Mann zurückkehr­e. Ein Imam als Vermittler sei ebenso denkbar wie ein finanziell­er Ausgleich, um die Ehre des verlassene­n Mannes wiederherz­ustellen. davon sei jedoch im vorliegend­en Fall geschehen.

Der LKA-Mitarbeite­r betonte, dass diese Strukturen jedoch nicht überall in Afghanista­n gelten. Dort gebe es zig Kulturen mit unterschie­dlichen Prägungen. Auch spiele es eine Rolle, ob eine Familie in einer Stadt oder auf dem Land lebe, wo solche Traditione­n meist verhaftete­r sind. Der Mord in Göggingen und nun der Prozess wühlen einige Afghanen, die in Augsburg eine Heimat gefunden haben, auf. Das wissen etwa Erwin Schlettere­r, Leiter des Vereins Die Brücke und Yussuf Parhez. „Meine Familie und mich hat dieser Fall sehr beschäftig­t“, sagt der 19-jährige gebürtige

Afghane. Nicht nur wegen der Grausamkei­t, sondern auch aus Sorge, dass der Täter ein schlechtes Licht auf alle Afghanen wirft.

Parhez ist ein Teilnehmer des Projekts „Heroes“, das die Brücke seit neun Jahren anbietet. Der Verein kümmert sich nicht nur um straffälli­g gewordene Jugendlich­e, sondern leistet auch präventive Arbeit wie etwa mit dem Projekt „Heroes – gegen Unterdrück­ung im Namen der Ehre“. Es richtet sich an männliche Jugendlich­e ab 16 Jahren, die aus sogenannte­n Ehrenkultu­ren stammen und etwas bewegen wollen. Sie werden zu sogenannte­n Heroes ausgebilde­t und leiten in Schulen und Jugendeinr­ichtungen Workshops, in denen etwa Gleichbere­chtigung, Rollenbild­er, Menschenre­chte und Demokratie thematisie­rt werden.

Kerem Demirkan, der einen türNichts kischen Migrations­hintergrun­d hat, ist seit neun Jahren bei den Heroes. „In vielen Familien werden Kulturen und Wertvorste­llungen einfach von der nächsten Generation übernommen, ohne darüber nachzudenk­en, ob diese richtig sind oder nicht“, weiß er aus Erfahrung. „Wir geben hier Jugendlich­en Denkanstöß­e, sagen, dass manche kulturelle Einstellun­gen längst überholt und auch falsch sind.“Der 26-Jährige und der sieben Jahre jüngere Yussuf Parhez sagen, dass sie durch das Projekt selbst viel gelernt haben. Sie finden es wichtig, ihre Erkenntnis­se anderen Jugendlich­en mitzugeben, damit diese sie in ihre eigenen Familien tragen.

Die „Heroes“wollen dazu beitragen, dass diese fatale Vorstellun­g von Ehre für die jetzige und die nächsten Generation­en keine Rolle mehr spielt.

Mord in Göggingen wühlt viele Afghanen auf

 ?? Archivfoto: Peter Fastl ?? Fast ein Jahr ist es her, dass ein 15‰Jähriger in der Asylunterk­unft Haus Noah in Göggingen sterben musste.
Archivfoto: Peter Fastl Fast ein Jahr ist es her, dass ein 15‰Jähriger in der Asylunterk­unft Haus Noah in Göggingen sterben musste.
 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Kerem Demirkan und Yussuf Parhez diskutiere­n als „Heroes“mit Jugendlich­en über den oft problemati­schen Umgang mit der Ehre.
Foto: Silvio Wyszengrad Kerem Demirkan und Yussuf Parhez diskutiere­n als „Heroes“mit Jugendlich­en über den oft problemati­schen Umgang mit der Ehre.
 ?? Archivfoto: Puchner ?? Nabi S. muss sich wegen Mordes vor Ge‰ richt verantwort­en.
Archivfoto: Puchner Nabi S. muss sich wegen Mordes vor Ge‰ richt verantwort­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany