Augsburger Allgemeine (Land West)

Das Prinzip „Schau’n wir mal“

Corona In Österreich feiert sich die Regierung von Kanzler Kurz als „Testweltme­ister“und glaubt, mit den gelockerte­n Maßnahmen irgendwie bis Ostern durchzukom­men. Doch das politische Zögern rund um die Mutationsf­älle in Tirol könnte das Land teuer zu steh

- VON WERNER REISINGER

Wien Es gleicht einem Glücksspie­l, was sich seit ein paar Tagen an der Grenze zwischen Bayern und Tirol abspielt. Beispiel Kiefersfel­den/ Kufstein. Wer gilt als „systemrele­vanter Pendler“, wer nicht? Bei so manchem Tiroler stößt das strenge Grenzregim­e der deutschen Nachbarn auf Unverständ­nis, ja Ärger.

Wer zum Arbeiten nach Bayern will, muss erst einmal aus Tirol hinaus, und dafür ist seit vergangene­m Freitag per Regierungs­verordnung ein negativer Corona-Test notwendig, der nicht älter als 48 Stunden sein darf. Kontrollie­rt wird das auf Kufsteiner Seite von Polizei und Bundesheer. Ein paar Meter weiter wird es für die Pendler erst richtig interessan­t, denn die deutschen Beamten verlangen nicht nur einen negativen Test und eine digitale Einreisean­meldung, sondern auch einen Dienstausw­eis oder Arbeitsver­trag.

Seit Dienstag durchgelas­sen werden – als kurzfristi­g eingeführt­e Ausnahme – nicht nur Gesundheit­spersonal und Transportd­ienstleist­er, sondern auch Erzieherin­nen, Altenpfleg­er oder Bedienstet­e aus den Bereichen Wasser- und Elektrizit­ätsversorg­ung. Bei allen anderen, die sich erhoffen, in das Schema zu passen, gilt: Versuch und Irrtum. Zahlreiche Tiroler versuchten es schon – nicht wenige mussten wieder umkehren.

Lange Schlangen aber, und das überrascht zumindest auf österreich­ischer Seite die Beamten, gibt es in Kufstein bislang keine. Wenn

Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder eine abschrecke­nde Wirkung beabsichti­gt hatte, so dürfte diese eingetrete­n sein. Die Mehrheit der Tiroler Pendler bleibt wohl vorsorglic­h gleich zu Hause.

Die unfreiwill­ig erworbene freie Zeit zum Skifahren zu nutzen wird in Tirol aber immer schwierige­r. Einzelne Lifte wie die Seilbahnen in Sölden oder auf der Steinplatt­e nahe der deutschen Grenze haben ihren Betrieb inzwischen eingestell­t, beklagt am Dienstag die Tiroler Wirtschaft­skammer – „nur 33 Gäste am Tag“habe ein Liftbetrei­ber gehabt. Nicht für die Seilbahnen selbst, wohl aber für die Pisten müssen Skifahrer seit Montag einen negativen Corona-Test vorweisen. Das sei „der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen“gebracht habe, lassen die Tiroler wissen; hinzu sei noch das Ende der Ferien in Österreich gekommen.

In Wien sorgt der neue Grenzstrei­t mit Bayern für heftige politische Verstimmun­g. Am Sonntag wurde Ralf Beste, der deutsche Botschafte­r in Österreich, ins Außenamt zitiert. In „guter Atmosphäre“, wie man in der Hauptstadt betont, habe man Beste darauf hingewiese­n, was man von den Maßnahmen an der Grenze halte. Einen „Tabubruch“auf europäisch­er Ebene stelle das Verhalten Deutschlan­ds dar, wettern Zeitungen, die der Kanzlerpar­tei ÖVP nahestehen. „Letztklass­ig“sei es, wie sich Markus Söder Tirol gegenüber verhalte, ließ dessen ÖVP-Landeshaup­tmann Günther Platter ausrichten.

Wieder also hängt der Haussegen zwischen Tirol und Bayern gewaltig schief. Und das ist nur eine der Sorgen, die die Regierungs­spitze um Sebastian Kurz derzeit hat.

Zehn Tage nach den ersten Lockerunge­n seit Weihnachte­n gilt in Österreich mehr denn je das bundesweit bekannte Prinzip „Schau’n wir mal“. Auch wenn praktisch alle Experten erwarten, dass es nur wenige Wochen dauern wird, bis steigende Corona-Zahlen erneut scharfe Maßnahmen notwendig machen werden, versucht man, sich irgendwie durchzuwur­schteln, von Tag zu Tag und von Woche zu Woche.

Das Ziel: es irgendwie bis Ostern zu schaffen, Geschäfte und Schulen offen zu halten. Für die Gastronomi­e und Hotellerie wird es frühestens dann, „rund um Ostern“, wie Kanzler Kurz am Montag verkündete, Lockerunge­n geben. Die Regierung stellt für die Touristike­r nun noch mehr Geld zur Verfügung (1,8 Millionen statt bisher 800000 Euro Fixkosten-Beihilfera­hmen und maximal zehn Millionen statt bisher drei Millionen als Ersatz für Umsatzausf­älle) und spricht von einer „EU-Vorreiterr­olle“des ÖVPFinanzm­inisters und Kurz-Intimus Gernot Blümel.

Wie ein harter Lockdown sah der Alltag bis zum 8. Februar ohnehin nicht aus. Die abendliche­n Auswaren kaum zu merken, auf den Straßen Wiens herrschte auch vor den Lockerunge­n geschäftig­es Treiben. Seit den Öffnungen zieht es die Menschen in die Geschäfte oder – endlich mal wieder – zum Friseur. Weil für Letzteren ein negativer Test vorzuweise­n ist, gab es vergangene Woche an den Teststraße­n, etwa vor dem Schloss Schönbrunn, großen Andrang. In den vergangene­n Tagen wurde bundesweit die Rekordzahl von rund 1,5 Millionen Antigen-Schnelltes­ts absolviert und nach wie vor scheinen die Infektions­zahlen zu stagnieren.

Doch die Ruhe ist trügerisch, glaubt der Virologe Norbert Nowotny, Professor an der Wiener Vetmeduni: „Acht Tage, das ist noch viel zu kurz, um einen Anstieg der Zahlen zu sehen.“Nowotny erwartet eine Zunahme des Infektions­geschehens Ende der laufenden, spätestens Anfang der kommenden Woche. „Dann wird es interessan­t zu sehen, in welcher Dynamik die Zahlen wieder ansteigen.“

Große Sorgen macht dem Virologen vor allem die britische Variante B.1.1.7, die sich im bevölkerun­gsreichen Osten Österreich­s immer stärker durchsetzt und sich auch langsam im Westen auszubreit­en beginnt. Bei der noch gefährlich­eren südafrikan­ischen Virusmutat­ion, deren gehäuftes Auftreten in Tirol der Grund für die strengen bayerische­n Grenzkontr­ollen ist, habe man die Chance verpasst, „sofort, effizient und vor allem lokal“zu handeln. Mit den Verkehrsbe­stimmungen aus Tirol und den zwingend notwendige­n negativen Tests könne man die Ausbreitun­g des südafrikan­ischen Typs lediglich verzögern, nicht aber verhindern, sagt Nowotny. „Dafür ist es jetzt zu spät. Richtig wäre gewesen, vor allem den Bezirk Schwaz sofort unter eine siebenbis zehntägige Quarantäne zu stellen und alle Bewohner durchzutes­ten.“

Auch dass trotz der Mutation in Schwaz genau wie im restlichen Österreich Lockerunge­n in Kraft traten, sorgt bei Nowotny für Kopfschütt­eln. Notwendig wären nun zumindest Abwasserte­sts vor den Kläranlage­n, die sich erfahrungs­gemäß bestens für eine rasche Entdeckung gehäufter Mutationsf­älle eigneten, sagt er.

Die Strategie, Schulen im Wechselunt­erricht bei gleichzeit­igen Selbsttest­s wieder zu öffnen und in Geschäften neben der FFP2-Maskenpfli­cht nur einen Kunden je 20 Quadratmet­er hereinzula­ssen, nennt der Virologe dennoch einen „gangbaren Weg“. Nowotny hält es für möglich, auf diese Weise zumindest bis Ostern in den Schulen den Präsenzunt­erricht aufrechtzu­erhalgangs­beschränku­ngen ten. So froh Eltern und Schüler über den nun wieder möglichen Vor-OrtUnterri­cht sind, so ausgelaugt seien die Lehrer, sagt Paul Kimberger, Chef der Gewerkscha­ft der Pflichtsch­ullehrer.

Auch er weist darauf hin, dass die Schulen erst zu kurz und ferienbedi­ngt auch nur in Wien und Niederöste­rreich wieder geöffnet hätten, um ein erneutes Infektions­geschehen beobachten zu können. „Es gibt große Verunsiche­rung, auch wenn die ersten Tage im Wesentlich­en passabel gelaufen sind“, sagt Kimberger.

Der Aufwand für die Lehrer sei enorm, es fehle „massiv an Personal“und zudem sei man skeptisch, ob nach dem Ferienende in den restlichen Bundesländ­ern wirklich alle Schulen bundesweit mit Selbsttest­s versorgt werden können. „Wir brauchen rund zwei Millionen Tests in der Woche, da muss die Logistik absolut passen“, sagt der Gewerkscha­fter.

Während Grundschül­er die ganze Woche im Präsenzunt­erricht verbringen und montags sowie mittwochs direkt in der Schule getestet werden, gilt für die höheren Klassen der Wechselunt­erricht, freitags ist zudem Homeschool­ing-Tag – für die Lehrer ein doppelter Vorbereitu­ngsaufwand, hat Kimberger festgestel­lt.

Er beklagt mangelnde Unterstütz­ung

vom Bund, was die Ausstattun­g betrifft: „Nur durch die Eigeniniti­ative der Lehrer und Eltern gibt es genug Endgeräte für die Schüler. Sonst gäbe es keinen Distanzunt­erricht.“Hier machten sich die Versäumnis­se der letzten Jahre – Stichwort digitale Schule – besonders bemerkbar.

Kimberger macht Druck auf die Regierung. Die Lehrer müssten rasch durchgeimp­ft werden, auch die Frage der Impfungen für ältere Schüler müsse geklärt werden. Erst dann könne es zu einer merklichen Entspannun­g in den Schulen kommen. Lehrer sind inzwischen im österreich­ischen Impfplan prioritär gleich hinter dem Gesundheit­spersonal, den Risikogrup­pen und den Älteren gereiht und sollen ab Ende März ihre Impfungen erhalten.

Die Schnelltes­ts an den Schulen bergen zudem ein hohes Risiko. Nur rund die Hälfte der asymptomat­ischpositi­ven Schüler wird entdeckt, musste auch ÖVP-Bildungsmi­nister Heinz Faßmann zugeben. „Wie insgesamt in der Gesellscha­ft werden auch in den Schulen die Zahlen steigen“, befürchtet Gewerkscha­fter Kimberger mit Blick auf die Mutationen.

Bleibt noch der Handel. Man wolle alles daransetze­n, dass die nun erfolgte Öffnung auch bei steigenden Fallzahlen nicht zurückgeno­mmen werde, sagt Rainer Will, Geschäftsf­ührer des überpartei­lichen Handelsver­bandes. „Jede Woche Lockdown bringt einen Verlust von einer Milliarde Euro Umsatz“, sagt er. Will drängt vor allem auf präventive Restruktur­ierungsmaß­nahmen wie in

Der Zorn auf Markus Söder ist groß

Wieder ließ Kurz seinen Gesundheit­sminister fallen

Deutschlan­d. Insolvenzg­efährdete Betriebe müssten sich mittels Schultersc­hluss von Gläubigern, Banken und öffentlich­er Hand rasch sanieren können. Zudem fordert er einen „Arbeitspla­tzsicherun­gsbonus“für die Händler. Ansonsten drohe spätestens im Herbst eine nie da gewesene Pleitewell­e.

Und die Politik? In einem sind sich Experten, Lehrer- und Handelsver­treter einig: Es hätte nie so weit kommen dürfen, dass sich Tirol mit seinem südafrikan­ischen Corona-Cluster im Konflikt mit dem grünen Gesundheit­sminister Rudolf Anschober durchsetzt. Der Preis dafür könnte hoch werden. Die nun geltenden Maßnahmen sind zum wiederholt­en Mal das Produkt eines vielschich­tigen politische­n Streits, der vor allem innerhalb der türkisgrün­en Koalition in Wien tobt.

Statt rascher Maßnahmen gab es von Tiroler Seite fragwürdig­e Zahlen zu den Mutationsf­ällen und – rechtlich nicht einmal vorgesehen­e – Verhandlun­gen zwischen dem Tiroler ÖVP-Landeshaup­tmann Günther Platter und Anschober. Diese wurden ergebnislo­s abgebroche­n, Platters Parteifreu­nd Kurz versagte dem Gesundheit­sminister abermals die Rückendeck­ung. Dann rückte Kurz selbst aus, verkündete die nun geltenden Testvorsch­riften bei der Ausreise aus Tirol und behauptete in regierungs­nahen Zeitungen, er selbst hätte ja gerne noch härtere Maßnahmen in Tirol verordnet.

Ein Schema, das die Österreich­er inzwischen gut kennen. Genau wie das Prinzip „Schau’n wir mal“.

 ?? Foto: Daniel Liebl/Zeitungsfo­to.at/APA, dpa ?? Österreich­ische Polizisten kontrollie­ren bei Kufstein einen Autofahrer bei der Ausreise aus Tirol nach Bayern. Dafür muss dieser einen negativen Corona‰Test vorweisen. Ein paar Meter weiter verlangen die deutschen Beamten bei der Einreise noch deutlich mehr.
Foto: Daniel Liebl/Zeitungsfo­to.at/APA, dpa Österreich­ische Polizisten kontrollie­ren bei Kufstein einen Autofahrer bei der Ausreise aus Tirol nach Bayern. Dafür muss dieser einen negativen Corona‰Test vorweisen. Ein paar Meter weiter verlangen die deutschen Beamten bei der Einreise noch deutlich mehr.

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