Augsburger Allgemeine (Land West)
Das schwierige Ringen um die Inzidenzwerte
Pandemie Von aus der Luft gegriffenen Zahlen spricht der neue CDU-Chef Laschet mit Blick auf die Corona-Zielwerte. Wissenschaftler warnen indes, das Erreichte leichtsinnig aufs Spiel zu setzen
Augsburg Sie hatte nur ein kurzes Intermezzo in dieser unübersichtlichen Zeit: Gerade einmal für zwei Wochen galt im Herbst vergangenen Jahres die Corona-Ampel in Bayern. Sie sollte regeln, wann welche Schutzmaßnahmen in welchen Regionen des Freistaats greifen. Grün war die Ampel bis zu einer Sieben-Tage-Inzidenz von 34, schaltete ab 35 auf Gelb, ab 50 wurde sie Rot – ein ausdrücklicher Warnwert. Doch schon bald wurden so viele Abstufungen von Dunkelrot benötigt, dass die Ampel durch ein umfangreicheres Konzept ersetzt werden musste. Und dennoch zeigt sie noch heute: Der Inzidenzwert von 35 ist keineswegs aus der Luft gegriffen – auch wenn NRW-Ministerpräsident Armin Laschet dies inzwischen behauptet. Sogar im Infektionsschutzgesetz wurde der Wert niedergeschrieben.
Und doch sagt Laschet nur eine Woche nach dem Beschluss der Bundesländer, den er selbst mitgetragen hat, bei einem Treffen mit Parteifreunden in Baden-Württemberg: „Man kann nicht immer neue Grenzwerte erfinden, um zu verhindern, dass Leben wieder stattfindet.“Erfinden? Der Frust über den langen Corona-Lockdown wächst, und das offenbar auch bei jenen, die ihn anordnen. Wahlkampf-Auftakt ist das für die einen, ein Zersetzen der öffentlichen Moral für andere – dringend notwendige Debatte für die Dritten. Und doch gibt es nach Ansicht von Wissenschaftlern kaum eine wirkliche Alternative, als eine Ziellinie zu definieren, die größtmögliche Sicherheit bietet, dass die Zahlen nicht innerhalb kurzer Zeit wieder nach oben gehen statt zu sinken. Das Ziel müsse sein, so mahnen etwa renommierte Expertinnen wie Viola Priesemann oder auch Melanie Brinkmann, die Inzidenz so niedrig wie möglich zu halten. Sie warnen eindringlich davor, das bislang Erreichte nun mit leichtsinnigen Schritten zu gefährden. Selbst der Wert von 35 reiche für eine wirkliche Rückkehr zur Normalität nicht aus. Ein Inzidenzwert von 35 bedeute, dass es tagtäglich eine ganze Menge Neuinfektionen gebe. Lockerungen müssten deshalb schrittweise vorgenommen werden, sodass die Gesundheitsämter die Kontrolle nicht sofort wieder verlieren. Melanie Brinkmann sagte kürzlich in einem Spiegel-Interview: „Es wäre fatal zu hoffen, wir könnten die Maßnahmen mit einer Inzidenz von knapp unter 50 lockern und dabei das Virus im Zaun halten. Die Zahlen würden sofort wieder steigen.“
Laut Robert-Koch-Institut lag die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz
am Dienstag bei 59. Vor vier Wochen lag die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten CoronaNeuinfektionen pro 100000 Einwohner in Deutschland noch bei 131, Spitzenreiter und Schlusslicht zugleich ist heute der Freistaat Bayern mit den bundesweit höchsten und niedrigsten Inzidenzwerten. Mit 309,5 neuen Ansteckungen pro 100000 Einwohner binnen einer Woche weist Tirschenreuth weiterhin die meisten Corona-Neuinfektionen im Bundesgebiet auf. Die unterfränkische Stadt Schweinfurt hat mit 5,6 neuen Ansteckungen pro 100000 Einwohner binnen einer Woche den niedrigsten Wert im ganzen Bundesgebiet.
Falls sich Deutschland Anfang
März für weitere Öffnungsschritte entscheidet, so die Experten, müssten die mit Schutzkonzepten und Testungen begleitet werden – genau das schlägt jetzt auch Gesundheitsminister Spahn vor. „Ab 1. März sollen alle Bürger kostenlos von geschultem Personal mit AntigenSchnelltests getestet werden können“, kündigte er an. Kommunen könnten Testzentren, Apotheken oder Praxen mit solchen Angeboten beauftragen. Allerdings sind das nach wie vor keine Tests, die auch von Laien durchgeführt werden können. Österreich geht inzwischen diesen Weg, in Deutschland sind sie noch nicht zugelassen. Wer sich testen lassen will, muss zum Profi.
Vom gewohnten Alltag dürfte Deutschland aber ohnehin noch ein ganzes Stück entfernt sein. Mittlerweile sind gerade einmal rund drei Prozent der Menschen in Deutschland geimpft. Immerhin: Noch in dieser Woche sollen alle Pflegeheimbewohner durch den Piks geschützt sein. Sämtliche Über80-Jährigen sollen bis etwa Ende März drankommen. Virologe Christian Drosten von der Charité weist im NDR-Podcast allerdings darauf hin, dass diese Gruppe nicht der große Virus-Verbreiter sei. „Es könnte deswegen dementsprechend so sein, dass wir von der Impfung bis Ostern noch keinerlei Effekt sehen“, sagt Drosten mit Blick auf die Virusverbreitung.
Und das ist nur der Blick nach Deutschland. Viele ärmere Länder können sich bislang keinen oder nur zu wenig Impfstoff leisten. Während Europa immerhin eine Impfquote von 5,70 hat, kommt Afrika gerade einmal auf 0,11 verabreichte Dosen pro 100 Personen. Das ist gefährlich. Denn dort, wo viele Menschen infiziert sind, bilden sich leichter Mutationen aus, die im Zweifel resistent gegen die Impfung sind und nach Deutschland eingeschleppt werden könnten – und den Inzidenzwert ansteigen lassen.
Wissenschaftler wie der SystemImmunologe Michael Meyer-Hermann warnen auch deshalb vor den Mutationen und den Folgen. Da unter anderem die britische Mutante deutlich ansteckender ist, könnte die sogar die von der Politik angepeilte Ziel-Inzidenz von 35 Infektionen pro 100000 Einwohner und Woche torpedieren. Sollte sich das Vorkommen der Mutante B.1.1.7 ungünstiger entwickeln als erwartet, könne es sein, dass die 35 mit dem aktuellen Lockdown gar nicht zu erreichen sei, sagt Meyer-Hermann. „Das macht deutlich, dass jede Form von Öffnungen zum jetzigen Zeitpunkt ein hohes Risiko birgt, die gesetzten Ziele nicht erreichen zu können.“