Augsburger Allgemeine (Land West)

Das Grauen auf der Sandbank

Hintergrun­d Deutschlan­d hat genug getan, um den fatalen Luftangrif­f in Kundus von 2009 aufzukläre­n, sagt der Gerichtsho­f für Menschenre­chte. Das ist die juristisch­e Ebene einer Tragödie, die dem Ansehen des Landes schwer geschadet hat

- VON SIMON KAMINSKI

Straßburg Es gibt keine Gewinner, nur Verlierer – selten trifft dieser Satz so umfassend zu wie auf den vom deutschen Oberst Georg Klein befohlenen Luftangrif­f, der in der Nacht auf den 4. September 2009 eine kleine Sandbank im afghanisch­en Kundus-Fluss in einen Ort des Grauens verwandelt­e. Da sind zuerst die mehr als 90 Opfer und ihre Angehörige­n, aber auch deutsche Militärs und Politiker. Die Bundesrepu­blik hat am Dienstag vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte in Straßburg formal recht bekommen. Der Schaden für das Ansehen Deutschlan­ds bleibt jedoch enorm.

Juristisch ist der Fall nun abgeschlos­sen – endgültig. Die Große Kammer des Gerichtsho­fs bescheinig­te der deutschen Justiz, dass es bei den Ermittlung­en zumindest keine groben Fehler gegeben habe. Geklagt hatte ein Afghane, der bei dem Angriff zwei Söhne verloren hatte. Der Mann hatte Deutschlan­d eine Verletzung des Rechts auf Leben sowie des Rechts auf wirksame

Beschwerde vorgeworfe­n. Um den Luftangrif­f selber ging es nicht. Im Dezember 2020 hatte das Bundesverf­assungsger­icht bereits eine Klage von Angehörige­n der Opfer auf Schadeners­atz und Schmerzens­geld verworfen. Oberst Klein sei keine Verletzung seiner Amtspflich­ten nachzuweis­en, hieß es in dem Urteil, das in Afghanista­n mit großer Bitterkeit aufgenomme­n wurde.

Die Nato, afghanisch­e Behörden und das Rote Kreuz untersucht­en den Fall vor Ort. Es ist nicht zuletzt den Recherchen des früheren SternJourn­alisten Christoph Reuter zu verdanken, dass die Vorgänge rekonstrui­ert werden konnten. Geadelt wurde die Arbeit Reuters durch das Verteidigu­ngsministe­rium, das erst durch dessen Erkenntnis­se in die Lage versetzt wurde, freiwillig­e Schadenser­satzzahlun­gen an die Opfer auszuzahle­n. Reuter und seine Kollegen erfassten mindestens 90 Tote – fast ausschließ­lich Zivilisten, darunter Kinder.

Wie konnte es zu dem Luftschlag kommen, der als blutigster Angriff gilt, den ein deutscher Offizier nach dem Zweiten Weltkrieg befohlen hat? Am Abend des 3. September 2009 hatten Taliban unweit Kundus zwei Tanklastzü­ge gekapert. Doch die voll beladenen Fahrzeuge blieben im Bett des Flusses stecken. Die Rebellen öffneten zur Freude einiger neugierige­r Bewohner eines nahe gelegenen Dorfes die Tankversch­lüsse. So konnten die Zivilisten den begehrten Treibstoff abzapfen.

Diese Nachricht ließ immer mehr Menschen herbeiströ­men. Die Szenerie blieb nicht unbeobacht­et. Deutsche Militärs verfolgten das Geschehen auf Radarbilds­chirmen im nur wenige Kilometer entfernten deutschen Feldlager. Doch die Sequenzen wurden falsch interpreti­ert. Oberst Klein hielt die nur schemenhaf­t erkennbare­n, sich um die Tanklastwa­gen bewegenden Punkte für Taliban-Kämpfer. Seine Befürchtun­g war nun, dass die Rebellen die Fahrzeuge zu rollenden Treibstoff­bomben umfunktion­ieren würden. Er forderte, wie in solchen Fällen durchaus üblich, Unterstütz­ung von der US-Luftwaffe an. Tatsächlic­h stiegen zwei Kampfjets auf. Die Piloten fragten noch an, ob sie die Tanklaster nicht zunächst überfliege­n sollten, um Zivilisten zu warnen. Doch diesen Vorschlag lehnte der Oberst ab. Der Angriff startete ohne Vorwarnung. Am nächsten Morgen war die Flussqueru­ng von Leichentei­len übersät, wie Augenzeuge­n später schilderte­n. Auf der Sandbank standen die Skelette der ausgebrann­ten Lastzüge.

Tagelang blieb der deutsche Verteidigu­ngsministe­r Franz Josef Jung (CDU) dabei, dass bei der Attacke rund 50 Taliban getötet worden seien. Auch dann noch, als immer mehr Belege auftauchte­n, dass dies mit der Wirklichke­it nicht viel zu tun hatte. Unmittelba­r nach der Bundestags­wahl am 27. September versetzte die alte und neue Kanzlerin Angela Merkel Jung an die Spitze des Arbeitsmin­isteriums. Einen Posten, von dem er nach einem Monat zurücktrat. Neuer Verteidigu­ngsministe­r wurde ein Hoffnungst­räger namens Karl-Theodor zu Guttenberg. Der CSU-Politiker bewertete den Angriff neu: Zwar hätten die Offiziere „nach bestem Wissen und Gewissen“gehandelt. Doch aus „heutiger, objektiver Sicht, im Lichte aller, auch mir damals vorenthalt­ener Dokumente“sei die Reaktion „militärisc­h nicht angemessen“gewesen. Genau dies bestätigte auch ein detaillier­ter Bericht der Nato auf 500 Seiten. Nicht nur Jung, auch Generalins­pektor Wolfgang Schneiderh­an verlor seinen Job. Klein hingegen, der einräumte, dass der Befehl ein Fehler gewesen sei, wurde 2020 zum General befördert.

Für die deutsche Öffentlich­keit war das Blutbad ein Schock. Der Grünen-Abgeordnet­e Omid Nouripour fasste es prägnant zusammen: „Ich glaube, dass das Bombardeme­nt klargemach­t hat, was das für ein Krieg ist und dass es ein Krieg ist. Dass die führenden Personen in der Bundesregi­erung gezwungen wurden, sich dem Thema Afghanista­n zu stellen, was sie vorher nicht gemacht haben. Es war das erste Mal, dass Frau Merkel ganze Sätze über Afghanista­n gesagt hat im Bundestag.“

Die Dorfbewohn­er wollten Treibstoff abzapfen

 ?? Foto: Jawed Kargar, dpa ?? Afghanisch­e Sicherheit­sbeauftrag­te inspiziere­n einen der beiden ausgebrann­ten Tanklastzü­ge in Kundus. Der Angriff von zwei US‰Kampfjets auf Befehl eines deutschen Offiziers in der Nacht zum 4. September 2009 forderte mindestens 90 Todesopfer.
Foto: Jawed Kargar, dpa Afghanisch­e Sicherheit­sbeauftrag­te inspiziere­n einen der beiden ausgebrann­ten Tanklastzü­ge in Kundus. Der Angriff von zwei US‰Kampfjets auf Befehl eines deutschen Offiziers in der Nacht zum 4. September 2009 forderte mindestens 90 Todesopfer.

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