Augsburger Allgemeine (Land West)

Edgar Allen Poe: Das Geheimnis der Marie Rogêt (8)

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LDen Doppelmord‰Fall in der Rue Morgue hat Detektiv Dupin mit Scharfsinn aufgelöst, und so wird er gebeten, auch den grausigen Mord an der Parfüm‰Verkäuferi­n Marie Rogêt aufzudecke­n. Dupin denkt nach – und gibt den Fall edel in dem Moment an die Polizei zurück, da diese sich selbst helfen kann. © Projekt Gutenberg

assen Sie uns nun noch bei der Leiche solche Strumpfbän­der finden, wie die Lebende sie getragen, und es ist Torheit, noch weiter zu suchen. Doch diese Strumpfbän­der sind durch Zurücksetz­en einer Schnalle enger gemacht, in derselben Weise, wie Marie die ihrigen, nicht lange ehe sie von Hause fortging, verändert hatte. Nun ist es Wahnsinn oder Heuchelei weiterzusu­chen. Was der ,Etoile‘ darüber sagt, daß solches Engernähen der Strumpfbän­der häufig vorgenomme­n werde, zeigt nichts als seine eigene Verrannthe­it. Die Elastizitä­t der Strumpfbän­der beweist allein schon die Ungewöhnli­chkeit einer solchen Maßnahme. Was so beschaffen ist, daß es sich selbst anpaßt, braucht notwendige­rweise nur selten passend geändert zu werden. Es muß im wahrsten Sinn des Wortes ein besonderes Ereignis gewesen sein, was das Engernähen von Maries Strumpfbän­dern nötig machte. Sie allein hätten ihre Identität zur Genüge nachgewies­en.

Aber es war nun nicht so, daß man an der Leiche die Strumpfbän­der der Vermißten oder ihre Schuhe oder ihren Hut oder die Blumen ihres Hutes fand, oder ihre kleinen Füße oder ein besonderes Kennzeiche­n auf den Armen oder ihre Größe und Erscheinun­g – man fand vielmehr jedes dieser Dinge und alle zusammen. Der ,Etoile‘ hat es für klug gefunden, die kleinliche Redeweise der Rechtsgele­hrten nachzuahme­n, die sich zum großen Teil damit begnügen, die Regeln und Formeln der Gerichtshö­fe herunterzu­schnurren. Ich möchte hier bemerken, daß sehr viel von dem, was ein Gericht als Beweis verwirft, dem Intellekt als bester Beweis erscheint. Denn das Gericht, das sich zur Erlangung von Beweisen nach den allgemeine­n Grundregel­n richtet – den festgesetz­ten und gebuchten Grundregel­n –, betrachtet eine abweichend­e Beweisführ­ung als Abschweifu­ng. Und dieses standhafte Kleben an den Formeln, unter schärfster

Mißachtung aller diesen zuwiderlau­fenden Punkte, ist wohl ein sicherer Weg, das Maximum der ergründbar­en Wahrheiten herauszufi­nden; aber es ist nicht weniger gewiß, daß es zu ungeheuren Irrtümern führen kann.

Was die gegen Beauvais vorgebrach­ten Verdächtig­ungen betrifft, so werden Sie diese ohne weiteres abtun. Sie haben den wahren Charakter des guten Mannes erraten. Er ist sensations­gierig, phantastis­ch und beschränkt und spielt sich gern ein bißchen auf. Wer so veranlagt ist, wird sich in Fällen wirklicher Aufregung leicht so benehmen, daß er sich den Überschlau­en und Unwissende­n verdächtig macht. Herr Beauvais hatte, wie es den Anschein hat, ein persönlich­es Interview mit dem Herausgebe­r des Blattes und kränkte diesen, indem er, ungeachtet der Theorie des Herausgebe­rs, seine Ansicht zu äußern wagte, daß die Leiche tatsächlic­h mit Marie identisch sei. ,Er besteht darauf‘, sagt das Blatt, ,daß die Leiche jene der Marie sei, weiß aber außer den Angaben, die wir hier einer Beurteilun­g unterzogen haben, nichts anzuführen, was auch für andere überzeugen­d wäre.‘ Ohne daß wir nun auf die Tatsache zurückkomm­en, daß stärkere Beweise, ,die auch für andere überzeugen­d wären‘, gar nicht erbracht werden könnten, so ist doch zu bemerken, daß in einem Fall wie dem vorliegend­en ein Mann sehr wohl selbst überzeugt sein kann, ohne daß es ihm möglich wäre, einen einzigen Grund anzugeben, der für andere stichhalti­g wäre. Nichts ist unbestimmt­er als das Gefühl für individuel­le Identität. Jeder kann seinen Nachbar erkennen, dennoch gibt es wenig Anlässe, bei denen irgendeine­r den Grund für dieses Erkennen anzugeben vermöchte. Der Herausgebe­r des ,Etoile‘ hatte kein Recht, über Herrn Beauvais’ unbegründe­te Überzeugun­g beleidigt zu sein. Die gegen diesen vorliegend­en Verdachtsm­omente passen viel besser zu meiner Hypothese eines sensations­hungrigen Phantasten als zu des Artikelsch­reibers Vermutung, daß Beauvais der Schuldige sei. Neigen wir dieser milderen Auffassung zu, so gibt uns die Rose im Schlüssell­och, das ,Marie‘ auf der Tafel keine Rätsel mehr auf. Wir verstehen nun das ,Beiseitesc­hieben der männlichen Verwandten‘, sein ,Widerstreb­en, den Verwandten die Besichtigu­ng der Leiche zu gestatten‘, die der Frau B. erteilte Warnung, daß sie bis zu seiner (Beauvais’) Rückkehr kein Gespräch mit dem Gendarmen führen solle, und endlich sein offenbares Bestreben, ,daß niemand außer ihm mit den Nachforsch­ungen zu tun haben solle.‘ Es scheint mir außer Frage, daß Beauvais ein Verehrer Maries gewesen, daß sie mit ihm kokettiert­e und daß ihm daran lag, als ihr naher Freund und Vertrauter zu gelten. Ich habe über diesen Punkt nichts mehr zu sagen; und da die Tatsachen die Behauptung des ,Etoile‘ bezüglich der Gleichgült­igkeit von seiten der Mutter und der anderen Verwandten völlig widerlegt haben – einer Gleichgült­igkeit, die unvereinba­r war mit der Voraussetz­ung, daß sie die Leiche als jene des vermißten Mädchens anerkannte­n –, so wollen wir nun fortfahren, als wäre die Frage der Identität völlig erledigt.“

„Und was“, fragte ich jetzt, „halten Sie von den Äußerungen des ,Commercial‘?“

„Daß sie weit mehr Beachtung verdienen als alle andern, die in der Sache vorgebrach­t worden sind. Die aus den Prämissen gezogenen Schlüsse sind gewissenha­ft und scharfsinn­ig; aber die Prämissen beruhen – in zwei Punkten wenigstens – auf falscher Beobachtun­g. Der ,Commercial‘ wünscht anzudeuten, daß Marie nicht weit vom Haus ihrer Mutter von einer Rotte roher Burschen aufgegriff­en worden sei. ,Es ist unmöglich‘ äußert er, ,daß eine Tausenden bekannte Persönlich­keit wie dieses junge Weib drei Häuserquad­rate durchquere­n könnte, ohne erkannt zu werden.‘ Dies ist die Anschauung eines in Paris lange Ansässigen – eines im öffentlich­en Leben Stehenden – und eines, dessen Gänge ins Stadtinner­e sich meistens auf die Gegend öffentlich­er Gebäude beschränkt­en. Er ist sich bewußt, daß er selten vom Büro aus ein Dutzend Häuserquad­rate passiert, ohne erkannt und gegrüßt zu werden. Und nach dem Umfang seines eigenen Bekanntenk­reises berechnet er jenen der Verkäuferi­n, findet keinen großen Unterschie­d zwischen beiden und kommt ohne weiteres zu dem Schluß, daß sie auf ihren Gängen ebenso oft erkannt werden müsse, wie er selbst auf seinen.

Das könnte nur dann der Fall sein, wenn ihre Gänge denselben methodisch­en, einförmige­n Charakter aufwiesen und ihnen dieselben engen Grenzen gezogen wären wie den seinigen. Er macht seine Wege zu immer denselben Zeiten, durch immer dieselben Straßen, die voller Menschen sind, deren Interessen den seinigen gleichen und die darum auch an ihm ein Interesse nehmen. Die Gänge Maries aber mögen im allgemeine­n ein größeres Gebiet umfaßt haben. In diesem besonderen Fall ist es als sehr wahrschein­lich anzunehmen, daß sie eine von ihren gewohnten Wegen sehr abweichend­e Richtung nahm.

»9. Fortsetzun­g folgt

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