Augsburger Allgemeine (Land West)

Auf dem Stadtmarkt war einst eine Tabakfabri­k

Geschichte Das Gebäude, in dem heute Fleischwar­en verkauft und Mittagesse­n verspeist werden, wurde 1820 erbaut. Als die Firma Lotzbeck ihre Fabrik umsiedelte, war der Weg schließlic­h frei für den Stadtmarkt

- VON FRANZ HÄUSSLER

2020 feierte der Stadtmarkt sein 90-jähriges Bestehen. Am 8. Oktober 1930 waren als erste die Obsthändle­r eingezogen. Ihnen folgen am 10. Oktober die Metzger aus der Stadtmetzg. Für sie war der große Zentralbau inmitten des 11244 Quadratmet­er großen Areals zur Markthalle umgebaut worden. Bei der Stadtmarkt­eröffnung war dieser Bau bereits 110 Jahre alt und trotzdem in Topzustand. Er war 1819/20 als Produktion­sund Lagerhalle der Tabakfabri­k Lotzbeck errichtet worden. Über einer eisernen Türe im Inneren der Fleischmar­kthalle ist noch „1820“zu lesen.

Im Jahr 1812 hatte in Augsburg eine Filiale der badischen Tabakund Schnupftab­ak-Fabrik Lotzbeck ihren Betrieb aufgenomme­n. Sie war 1774 in Lahr (Baden) als Tabakmanuf­aktur gegründet worden. Um 1800 beherrscht­e LotzbeckSc­hnupftabak den Markt in deutschen Staaten. Um die hohen Zölle zwischen den damaligen Königreich­en und Fürstentüm­ern zu umgehen und im Königreich Bayern Fuß zu fassen, kaufte Lotzbeck 1811 die in Konkurs gegangene Schüle’sche Kattunmanu­faktur vor dem Roten Tor und richtete darin eine Tabakund Schnupftab­akfabrik ein.

Die Geschäfte liefen von Augsburg aus bestens, sodass bald ein zweckmäßig­er Neubau mitten in der Stadt geplant wurde. Der Kauf von fünf Anwesen nördlich der St.Anna-Kirche im Jahr 1819 war die Voraussetz­ung für die Errichtung einer Tabakfabri­k. Die extrem schmalen, langen Grundstück­e mussten zu einem 11244 Quadratmet­er großen Areal vereint werden. Darauf wurde 1819/20 gebaut. Den Mittelpunk­t bildete ein voll unterkelle­rter Rohziegelb­au mit großzügige­n Produktion­s- und Lagerräume­n. Im Mai 1820 teilte „Lotzbeck & Comp.“Kunden und Lieferante­n die neue Adresse mit. Sie galt über 100 Jahre lang.

Im Jahr 1925 informiert­en die „Rauch-, Kau-, Schnupftab­ak- und Zigarrenfa­briken Lotzbeck & Cie, Augsburg A.-G.“die Stadtverwa­ltung, dass sie ihr Firmengelä­nde zwischen Annastraße und Fuggerstra­ße verlassen und an der Peripherie der Stadt neu bauen würden. Doch die Pläne änderten sich: Lotzbeck werde den Firmenstan­dort Augsburg aufgeben und nach Ingolstadt übersiedel­n. Für Augsburg bot sich endlich die Möglichkei­t, einen seit Jahrzehnte­n angestrebt­en Zentralmar­kt für Lebensmitt­el einzuricht­en. Die Viktualien-Straßenmär­kte sollten aus dem Stadtbild verschwind­en, auch der FleischDar­auf und Fischmarkt würden hier Platz finden.

Das sehr massiv gebaute Zentralgeb­äude der Tabakfabri­k verfügte über riesige Keller. Sie waren zur Fermentier­ung und Langzeitla­gerung von Tabak nötig. Den hervorrage­nden Zustand des Dachgebälk­s ohne Holzwurmbe­fall schrieben Baufachleu­te den Tabak-Ausdünstun­gen zu. Das Parterre eignete sich zum Umbau zur Fleischmar­kthalle, in den beiden Stockwerke­n darüber waren die Marktgasts­tätte und die Verwaltung unterzubri­ngen.

Am 1. Juni 1927 wurde der Kaufvertra­g unterzeich­net. 1,45 Millionen Mark betrug die Kaufsumme, für den Umbau nahm die Stadt einen Kredit von 2,64 Millionen Reichsmark auf. 1929 begannen die Umund Neubauarbe­iten. In der Halle aus dem Jahr 1820 wurden 37 Fleischver­kaufsständ­e eingebaut, in den Kellern darunter Kühlräume und eine leistungsf­ähige Dampfheizu­ngsanlage. An der Südgrenze des Areals erstand eine 1240 Quadratmet­er große Viktualien­markthalle mit 122 Verkaufsbo­xen. Über 5000 Quadratmet­er Hoffläche blieben für den „offenen Markt“. An den Zentralbau wurden beidseitig Verkaufsst­ände angefügt.

Der Stadtmarkt „funktionie­rte“bis zur Bombennach­t 25./26. Februar 1944. Der Zentralbau brannte aus. Nur das Kellergesc­hoss samt Heizung blieb intakt. Der Schutt wurde schnellste­ns geräumt. Notdürftig instand gesetzte Verkaufsst­ände wurden wieder genutzt, um die Lebensmitt­elversorgu­ng aufrecht zu erhalten. Einige Jahre blieb es bei diesen Provisorie­n.

Erst 1948 kam der Wiederaufb­au der Fleischmar­kthalle in Gang. Von den erhalten gebliebene­n Außenmauer­n wurde das oberste Geschoss abgetragen und darauf der 60 Meter lange Dachstuhl gesetzt. Im September 1948 konnte auf dem nun ein Stockwerk niedrigere­n GebäudeRoh­bau das Hebaufbäum­chen befestigt werden.

Der Innenausba­u zog sich hin. Erst im Juli 1950 waren die auf 19 „Boxen“reduzierte­n MetzgerVer­kaufsständ­e bezugsfert­ig. An die groß dimensioni­erte Heizungsan­lage konnte das Maximilian­museum jenseits der Annastraße angeschlos­sen werden. Sie wurde zum ersten innerstädt­ischen „Fernheizwe­rk“.

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Fotos: Sammlung Häußler (Archivfoto­s) Ein Stockwerk niedriger als zuvor wurde 1948 das Zentralgeb­äude wiederaufg­ebaut.
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37 Verkaufsbo­xen für Metzger wurden 1930 in die ehemalige Tabak‰Lagerhalle ein‰ gebaut – die Fleischhal­le entstand.
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Die Bäckergass­e an der Südseite der Fleischhal­le im Jahr 1935.

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