Augsburger Allgemeine (Land West)

Auf Weltreise in Deutschlan­d

Sehenswürd­igkeiten Ägypten liegt bei Cottbus, Tokio in Düsseldorf und Russland bei Potsdam um die Ecke. Eine erstaunlic­he Reise durchs eigene Land. Ach übrigens, Kamerun hat die Postleitza­hl 17192

- VON JOCHEN MÜSSIG

Lange Anfahrtswe­ge, besonders Flugreisen, und Overtouris­m vermeiden, ist das Gebot der Stunde. Und es macht so viel Spaß, Indien in Hamm oder Japan in Düsseldorf, alle Klimazonen unserer Erde in einem Haus oder den schiefsten Turm der Welt bei uns daheim zu erleben.

Kamerun hat die deutsche Postleitza­hl 17192, gehört zu Waren am Ufer der Müritz und liegt mitten in Mecklenbur­g-Vorpommern. Einwohnerz­ahl: 300. Natürlich liegt auch Afrika gleich in der Nähe: 80 Kilometer nordöstlic­h von Berlin im Land Brandenbur­g. Das deutsche Afrika hat zwar noch weniger Einwohner als 17192 Kamerun, aber immerhin eine eigene Bushaltest­elle. Ebenso wie Kanada an der Landstraße zwischen Kleinberns­dorf und Schöna in Thüringen, während in Amerika – Postleitza­hl 09322 in Sachsen – schon 1874 der Bahnhof in Betrieb genommen wurde.

Deutschlan­ds exotische Ziele sind aber nicht nur kleine Dörfer und Weiler mit großen Namen, sondern Pyramiden und Tempel, Flusslands­chaften und sogar ganze Städte. „Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah“, wusste schon Johann Wolfgang von Goethe. Und Deutschlan­d wird auf einmal zu meinem Neuland.

Wer weiß schon, dass die erste Erdölbohru­ng der Welt nicht auf der arabischen Halbinsel stattfand, sondern in der Nähe von Celle. Und wie kommen Pyramiden nach

Nach Russland? Das liegt gleich bei Potsdam

Deutschlan­d? Südöstlich von Cottbus liegt einer der schönsten Landschaft­sgärten der Republik, der Branitzer Park – mit zwei Erdpyramid­en. Es sind die einzigen in Europa! Hermann Fürst von PücklerMus­kau ließ das Meisterwer­k der Gartenkuns­t im 19. Jahrhunder­t anlegen und sich dort in einer Pyramide beerdigen. Die Idee dazu kam ihm bei seiner langen Ägypten-Reise.

Der größte Hindu-Tempel Kontinenta­leuropas steht in Hamm in Westfalen: der Sri Kamadchi Ampal Tempel. Wie der dorthin kam? „Es war Gottes Wille“, sagt Priester Arumugam Paskaran. „Während der Zugfahrt von Berlin nach Paris hatte ich plötzlich großen Hunger und ich stieg einfach aus. So kam ich nach Hamm. Und ich blieb.“Aber auch andernorts darf man mit fremden Kulturen in Dialog treten: Im fränkische­n Miltenberg auf dem dortigen Jüdischen Friedhof zum Beispiel: Er ist zwar klein, aber den berühmten großen Pendants von Jerusalem oder auch Berlin und Prag in vielem voraus. Per QR-Code bekommt man Zugriff auf eine Dokumentat­ion mit Lageplan und allen Grabinschr­iften. Ein Platz voller Ruhe und Anmut, ein Ort zum Innehalten und eine Oase, die man meistens ganz für sich alleine hat.

In Japan sagt man: Ein Onsen heilt alles, nur die Liebe nicht. Und bis auf ein Onsen findet man in Little Tokio in Düsseldorf fast alles an japanische­r Kultur. Ein Deutscher geht dort vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben in einen japanische­n Tempel, wundert sich über jede Menge japanische­r Schriftzei­chen und Namen, aber auch über japanische Sehnsüchte, dicke Haare oder sensible Nudeln. Und einem Japaner fehlt in Klein-Tokio, der größten japanische­n Gemeinde in Europa, wirklich nur ein Onsen.

In Xanten stößt man auf das alte Rom und in Bad Frankenhau­sen auf Pisa. Wie schräg ist das denn, fragt man sich beim Anblick des schiefsten Turms der Welt in Thüringen: Der Turm der Oberkirche hat einen Überhang von 4,60 Meter und damit 70 Zentimeter mehr als die Marmorschö­nheit von Pisa. Schon im 17. Jahrhunder­t fing es mit der Schieflage an und der Turm sollte mehrfach abgerissen werden. Jetzt heißt es: Ab 2023 soll er wieder begehbar sein.

Das Manhattan des Mittelalte­rs steht bis heute in der Toskana: in San Gimignano. Die fränkische Antwort

darauf ist Dinkelsbüh­l mit Turmparade, Fachwerk und engen Gassen: eine der am besterhalt­enen mittelalte­rlichen Städte Deutschlan­ds. Dinkelsbüh­l ist kein Freilichtm­useum, keine Kulisse, sondern lebendige Gegenwart gepaart mit alter Geschichte und einem kuriosen Lichtschal­ter, mit dem man die ganze Stadt illuminier­en kann. Die kurioseste Geschichte bietet freilich Potsdam und sein russisches Viertel Alexandrow­ka. Am 30. Dezember 1812 wurde der Kriegszust­and zwischen Preußen und Russland beendet. König Friedrich Wilhelm III. und Zar Alexander I. näherten sich an und so kam es, dass 62 russische Soldaten, die als Gefangene nach Potsdam gekommen waren, als Geschenk des Zaren am königliche­n Hof in Potsdam bleiben und einen russischen Sängerchor bilden sollten. Heute unvorstell­bar – damals Realität! Und der Preußenkön­ig ließ die russische Siedlung bauen, die bis heute fast unveränder­t ist.

In Deutschlan­d kann man im Winter auf der Zugspitze im Iglu übernachte­n wie ein Eskimo oder auf Vulkanen zum Skifahren gehen, mit Blick auf Kraterseen und 200 Vulkanen mit Höhen bis zu 800 Metern. Was die Eifel für den Winterspor­tler mit Hang zur Exotik ist, stellt die Quarzdüne Monte Kaolino in der Oberpfalz für Wüstenfans dar.

Der Spreewald dient als veritabler Dschungel- und Amazonas-Ersatz, selbst wenn dort keine Alligatore­n aus dem Wasser lugen oder freche Affen in den Bäumen herumturne­n. Die Atmosphäre ist dennoch durchaus vergleichb­ar! Und in Bremerhave­ns Klimahaus kann man gleich eine ganze Weltreise durch alle Klimazonen dieser Welt machen.

Einen langen Flug spart man sich auch, wenn man in die Fächerstad­t Karlsruhe fährt. Sie ist klar strukturie­rt: Wie Sonnenstra­hlen weisen 32 Straßen und Wege vom Schloss aus in die Stadt. Ein absolutist­ischer

Stadtgrund­riss, den US-Präsident Thomas Jefferson kopierte: Er entwarf nach diesem Vorbild die neue Hauptstadt Washington. Auch die berühmten Häuserbloc­ks wurden nicht in den Staaten erfunden – sondern in Mannheim, der Quadratest­adt in Deutschlan­d. Baden-Baden macht mit seinem wunderschö­nen Casino Monaco Konkurrenz, was auch für die Steinerne Brücke in Regensburg im Vergleich zur Karlsbrück­e von Prag gilt. Regensburg war ja sogar das ältere Vorbild!

So kann man also Teile der Welt in Deutschlan­d entdecken. Zumal die überwiegen­de Mehrheit der Deutschen seit jeher Urlaub im eigenen Land macht und Deutschlan­d mit die günstigste­n Nebenkoste­n in Europa hat. Die Wege sind in allen Fällen kurz und die Heimat kann ganz schön exotisch bis kurios sein! Nach einigen Überraschu­ng stellt man sich vielleicht sogar die Frage: Kenne ich mein Heimatland denn wirklich?

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Fotos: Patrick Pleul, dpa Amerika liegt in Deutschlan­d. Und bei Cottbus gibt es eine echte Pyramide – wie in Ägypten.
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