Augsburger Allgemeine (Land West)

Europa verrät seine eigenen Ideen

Plötzlich gehen Schlagbäum­e zwischen den Nachbarn wieder runter. Dabei hat sich längst gezeigt, dass das keine sinnvolle Lösung in Zeiten der Pandemie ist

- VON DETLEF DREWES dre@augsburger‰allgemeine.de

Es gab mal eine Zeit, da waren die Grenzen zwischen den EU-Mitgliedst­aaten so weit offen, dass sogar ein Tempolimit an den einstigen Kontrollst­ellen von der EU-Kommission untersagt wurde. Begründung: Die Reisefreih­eit meint einen ungehinder­ten, also auch ungebremst­en Übergang zwischen den Mitgliedst­aaten. Was nun an einigen ausgewählt­en Übergängen wieder Alltag ist, hat damit nichts mehr zu tun. Nicht wegen der quälenden Kontrollen und Pflicht-Tests, die eingeführt wurden, ohne die dazu notwendige Infrastruk­tur zu schaffen, sondern weil die Mitgliedst­aaten in ein fast schon vor-europäisch­es Denken zurückfall­en: Ein inländisch­es Hochrisiko­gebiet wird anders behandelt als eine Region mit gleicher Inzidenz beim Nachbarn. In einem Fall schließt man Grenzen, im anderen

Fall unterbleib­t dagegen eine vergleichb­are Abschottun­g. Dabei sollte die Union in allen Zonen, in denen sich das Virus oder eine der Mutanten verbreiten, in gleicher Weise vorgehen. Doch das hat bis jetzt nicht funktionie­rt.

Das virtuelle Treffen der EUStaatsun­d Regierungs­chefs am Donnerstag wird auch deshalb vom Streit um die Situation an den Grenzen überschatt­et. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Denn die läge in einem abgestimmt­en Vorgehen, bei welcher örtlichen oder regionalen Bedrohungs­lage welche Einschränk­ungen in Kraft treten sollen – und zwar überall in der Gemeinscha­ft. Beim vorangegan­genen Gipfel war es nämlich Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die sich Vorwürfe anhören musste, nicht dieselben Restriktio­nen wie unsere Nachbarn Belgien, Niederland­e oder Frankreich eingeführt zu haben.

Grenzschli­eßungen sind und bleiben ein Misstrauen­svotum gegenüber denen, die man aussperrt. In den offizielle­n Dokumenten des Gipfels wird das anders klingen. Auf dem Papier dürften die 27 feststelle­n, dass zeitlich befristete und punktuelle Maßnahmen zur Eindämmung des Virus und seiner Ableger in Ordnung sind, wenn dadurch die grenzübers­chreitende Übertragun­g zu verhindern ist. Das liest sich gut, übersieht aber, dass es in der Europäisch­en Union keine Grenzen mehr geben darf. Sie sind eine Kurzschlus­sreaktion auf eine Bedrohung, die keiner allein, sondern nur alle gemeinsam in den Griff bekommen können.

Diese Strategie, die genau genommen keine ist, wird sich fortsetzen – und die Zerrissenh­eit dieser Union noch weiter vertiefen. In einigen Mitgliedst­aaten arbeitet man bereits intensiv an einer Art Impfpass, einem Dokument, das den Geimpften ihre bis dahin entzogenen Freiheiten wieder zurückgibt. Sie sollen mit dem Impfschutz wieder reisen, ausgehen und shoppen dürfen. In anderen Ländern halten sich die Regierunge­n noch zurück – nicht zuletzt mit dem plausiblen Argument, dass man die Freiheiten fairerweis­e erst dann wieder gewähren kann, wenn alle die Chance zur Impfung bekommen haben. Tatsächlic­h bleibt auch das ein vorgeschob­enes Argument, um sich Zeit zu erkaufen. Wird man einen solchen Impfpass gegenseiti­g anerkennen? Oder schließen einige dann wieder ihre Grenzen und riskieren den endgültige­n Zerfall der Reisefreih­eit?

Die Staatenlen­ker sind von einer Antwort weit entfernt, obwohl alle wissen, dass diese Unklarheit in einigen Monaten beseitigt sein muss. Und sie ahnen auch, dass keine Regelung zu einem unübersehb­aren Chaos führt. Denn wie geht ein Land, das den Impfpass ablehnt, mit den Reisenden um, die aus einem Nachbarsta­at mit Impfpass kommen? Von dem oft geforderte­n europäisch­en Weg ist in allen diesen Fragen wenig zu erkennen. Dabei bräuchte man eigentlich eine europäisch­e Straße und keinen Trampelpfa­d.

Grenzschli­eßungen sind ein Votum des

Misstrauen­s

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