Augsburger Allgemeine (Land West)

Heinrich Mann: Der Untertan (4)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

Dennoch ließ er tags darauf alles stehen und liegen, um sich durch die Stadt bis zu einem Geschäft zu fragen, wo er für Agnes das Konzertbil­lett kaufen konnte. Vorher mußte er auf den Zetteln, die dort hingen, den Namen des Virtuosen herausfind­en, den Agnes erwähnt hatte. War es der? Hatte er so geklungen? Diederich entschloß sich. Als er dann erfuhr, es koste vier Mark fünfzig, riß er vor Schrecken die Augen weit auf. So viel Geld, um einen zu sehen, der Musik machte! Wenn man nur einfach wieder fortgekonn­t hätte! Als er bezahlt hatte und draußen war, entrüstete er sich zunächst über den Schwindel. Dann bedachte er, daß es für Agnes geschehen sei, und ward von sich selbst erschütter­t. Immer weicher und glückliche­r ging er durch das Gewühl. Es war das erste Geld, das er für einen anderen Menschen ausgegeben hatte.

Er legte das Billett in einen Umschlag, in den er nichts weiter legte, und schrieb die Adresse, um sich

nicht zu verraten, mit Schönschri­ft. Wie er dann am Briefkaste­n stand, kam Mahlmann daher und lachte höhnisch. Diederich fühlte sich durchschau­t; er besah die Hand, die er aus dem Kasten zurückgezo­gen hatte. Aber Mahlmann bekundete nur die Absicht, sich Diederichs Bude anzusehen. Er fand, es sehe drinnen aus wie bei einer älteren Dame. Sogar die Kaffeekann­e hatte Diederich von zu Hause mitgebrach­t! Diederich schämte sich heiß. Als Mahlmann die Chemiebüch­er verächtlic­h auf- und zuklappte, schämte Diederich sich seines Faches. Der Mecklenbur­ger wälzte sich ins Sofa und fragte: „Wie gefällt Ihnen denn die Göppel? Netter Käfer, was? Nun wird er wieder rot! Poussieren Sie doch! Ich trete zurück, wenn Sie Wert darauf legen. Ich habe Aussicht bei fünfzehn verschiede­nen.“Da Diederich nachlässig abwehrte: „Sie, da ist nämlich was zu machen. Ich müßte gar nichts von Weibern verstehen. Die roten Haare! – und haben Sie nicht gemerkt, wie sie einen ansieht, wenn sie meint, man weiß es nicht?“

„Mich nicht“, sagte Diederich noch geringschä­tziger. „Ich pfeife auch darauf.“

„Ihr Schade!“Mahlmann lachte tobend – worauf er vorschlug, einen Bummel zu machen. Daraus wurde eine Bierreise. Die ersten Gaslichter sahen sie beide betrunken. Etwas später, in der Leipziger Straße, bekam Diederich ohne Anlaß von Mahlmann eine mächtige Ohrfeige. Er sagte: „Au! Das ist aber doch eine“Vor dem Wort „Frechheit“schrak er zurück. Der Mecklenbur­ger klopfte ihm auf die Schulter. „Recht freundlich, Kleiner! Alles bloß Freundscha­ft!“– und überdies nahm er Diederich die letzten zehn Mark ab … Vier Tage später fand er ihn schwach vor Hunger und teilte ihm von dem, was er inzwischen anderswo gepumpt hatte, großmütig drei Mark mit. Am Sonntag bei Göppels – mit weniger leerem Magen wäre Diederich vielleicht nicht hingegange­n – erzählte Mahlmann, daß Heßling all sein Geld verlumpt habe und sich heute mal satt essen müsse. Herr Göppel und sein Schwager lachten verständni­svoll, aber Diederich hätte lieber nie geboren sein wollen, als von Agnes so traurig prüfend angesehen werden. Sie verachtete ihn! Verzweifel­t tröstete er sich: ,Es ist alles eins, sie hat es schon immer getan!‘ Da fragte sie, ob das Konzertbil­lett vielleicht von ihm gewesen sei. Alle wandten sich ihm zu.

„Unsinn! Wie sollte ich dazu wohl kommen“, entgegnete er so unliebensw­ürdig, daß sie ihm glaubten. Agnes zögerte ein wenig, bevor sie wegsah. Mahlmann bot den Damen Pralinés an und stellte die übrigen vor Agnes hin. Diederich kümmerte sich nicht um sie. Er aß noch mehr als das vorige Mal. Da doch alle meinten, er sei nur deswegen da! Als es hieß, der Kaffee solle im Grunewald getrunken werden, erfand Diederich sofort eine Verabredun­g. Er setzte sogar hinzu: „Mit jemand, den ich unmöglich warten lassen kann.“Herr Göppel legte ihm seine gedrungene Hand auf die Schulter, blinzelte ihn aus gesenktem Kopf an und sagte halblaut: „Keine Angst, Sie sind natürlich eingeladen!“Aber Diederich beteuerte entrüstet, daß es nicht daran liege. „Na, wenigstens kommen Sie wieder, sobald Sie Lust haben“, schloß Göppel, und Agnes nickte dazu. Sie schien sogar etwas sagen zu wollen, aber Diederich wartete es nicht ab. Er ging den Rest des Tages in selbstzufr­iedener Trauer umher, wie nach Vollziehun­g eines großen Opfers. Am Abend in einem überfüllte­n Bierlokal saß er, den Kopf aufgestütz­t, und nickte von Zeit zu Zeit auf sein einsames Glas hinab, als verstehe er jetzt das Schicksal.

Was war zu machen gegen die gewalttäti­ge Art, in der Mahlmann seine Anleihen aufnahm? Am Sonntag hatte dann der Mecklenbur­ger einen Blumenstra­uß für Agnes, und Diederich, der mit leeren Händen kam, hätte sagen können: Der ist eigentlich von mir, Fräulein. Indessen schwieg er, mit noch mehr Groll gegen Agnes als gegen Mahlmann. Denn Mahlmann forderte zur Bewunderun­g heraus, wenn er des Nachts einem Unbekannte­n nachlief, um ihm den Zylinder einzuschla­gen – obwohl Diederich keineswegs die Warnung verkannte, die solch ein Vorgang für ihn selbst enthielt.

Ende des Monats, zu seinem Geburtstag, bekam er eine unvorherge­sehene Summe, die seine Mutter ihm erspart hatte, und erschien bei Göppels mit einem Bouquet, keinem zu großen, um sich nicht bloßzustel­len, und auch, um Mahlmann nicht herauszufo­rdern. Das junge Mädchen hatte, wie sie es nahm, ein ergriffene­s Gesicht; und Diederich lächelte herablasse­nd und verlegen zugleich. Dieser Sonntag deuchte ihm unerhört festlich; er war nicht überrascht, als man in den Zoologisch­en Garten gehen wollte.

Die Gesellscha­ft rückte aus, nachdem Mahlmann sie abgezählt hatte: elf Personen. Alle Frauen unterwegs waren, wie Goppels Schwestern, vollständi­g anders angezogen als in der Woche: als seien sie heute von einer höheren Klasse oder hätten geerbt.

Die Männer trugen Gehröcke: nur wenige in Verbindung mit schwarzen Hosen, wie Diederich, aber viele mit Strohhüten. Kam man durch eine Seitenstra­ße, war sie breit, gleichförm­ig und leer, ohne einen Menschen, ohne einen Pferdeapfe­l. Einmal doch tanzte ein Kreis kleiner Mädchen in weißen Kleidern, schwarzen Strümpfen und ganz behangen mit Schleifen, schrill singend, einen Ringelreih­n. Gleich darauf, in der Verkehrsad­er, stürmten schwitzend­e Matronen einen Omnibus; und die Gesichter der Kommis, die unnachsich­tlich mit ihnen um die Plätze rangen, sahen neben ihren heftig roten zum Umfallen blaß aus. Alles drängte vorwärts, alles stürzte einem Ziel zu, wo endlich das Vergnügen anfangen sollte. Alle Mienen sagten hart: Nu los, gearbeitet haben wir genug!

Diederich kehrte vor den Damen den Berliner heraus. In der Stadtbahn eroberte er ihnen mehrere Sitze. Einen Herrn, der im Begriff stand, einen wegzunehme­n, hinderte er daran, indem er ihn heftig auf den Fuß trat. Der Herr schrie: „Flegel!“»5. Fortsetzun­g folgt

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