Augsburger Allgemeine (Land West)
Merkel, Corona und die Schönfärberei
Die Regierung lässt im Pandemie-Kampf jede Vernunft fahren und verspricht leichtfertig Lockerungen. Der Grund: Es wird gewählt in Deutschland
Es ging offenbar hoch her beim Corona-Gipfel unter der Leitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. In der Runde mit den Ministerpräsidenten wurden viele offizielle Beschlüsse gefasst – plus ein Beschluss, den es auf dem Papier nicht gibt, der aber unausgesprochen mitschwingt: Die Inzidenzzahl als Anhaltspunkt für Lockerungen oder neue Beschränkungen bei den Grundrechten wird durch den Wahl-Wert ersetzt. Was das ist? Über Corona-Maßnahmen wird künftig mit Blick auf den Kalender entschieden: Je näher eine Wahl rückt, desto mehr wird gelockert.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Diesen Wert haben die Regierungen in Bund und Ländern natürlich nicht wirklich beschlossen. Aber ihr Vorgehen lässt darauf schließen, dass sie ihn ab jetzt ständig im Kopf haben.
Wir erinnern uns: Beim letzten Corona-Gipfel wurde noch hart gerungen. Es hieß gar, man könne den Lockerungspfad erst ab einer Inzidenz von 10 beschreiten. Diese Zahl wurde in den Tagen danach zu Staub diskutiert. Stattdessen wurde wieder die 35 aufgerufen und selbst die fiel der Gefallsucht der Politik fast zum Opfer.
Statt konkreter Zahlen gibt es jetzt einen bunten „Stufen-Öffnungsplan“. Die einzelnen „Stufen“lassen Schwankungen zwischen 35 und 100 beim Inzidenzwert zu – das ist eine unverantwortliche Bandbreite und hat mit den ursprünglichen Überlegungen rein gar nichts mehr zu tun.
Das Papier, auf dem die neuen Beschlüsse dokumentiert sind, ist in den Farben Blau und Grün gehalten, also den Farben der Sehnsucht und der Hoffnung. Dabei hätte, wenn überhaupt, Rot die dominierende Farbe sein müssen. Alarmrot, denn die Zahl der Neuinfektionen ist in den letzten Wochen zwar gesunken, sie hält sich aber auf einem beunruhigenden Niveau von 60 und darüber. Und das wird auch wohl so bleiben. Denn das schöne Wetter trifft nun auf die verständliche Ungeduld aller, die jetzt schon seit mehr als einem Jahr unter den Corona-Regeln leiden, und wird so manchen Kontakt im Freien nach sich ziehen.
Aber das ist den Verantwortlichen egal, weil es ja jetzt den Wahl-Wert gibt, und der sinkt immer weiter. Am 14. März wird in
Rheinland-Pfalz und in BadenWürttemberg gewählt, Anfang Juni ist Sachsen-Anhalt dran und dann folgen Ende September die Bundestagswahl sowie drei weitere Landtagswahlen. Da muss man erstens die Leute in gute Laune versetzen – das hat Kanzlerin Merkel bei der letzten Fraktionssitzung nach Teilnehmerangaben übrigens so auch unverhohlen zugegeben – und zweitens vom Regierungsversagen ablenken. Nicht nur, dass die
Politik bei der Impfstoffbeschaffung schlecht aussieht, sie schafft es ja nicht einmal, ausreichend Corona-Tests zu beschaffen. Gesundheitsminister Jens Spahn bekommt gerade nicht viel auf die Kette, die Länder weben schon am nächsten Flickenteppich mit unterschiedlichen Öffnungsstrategien. Das könnte man ehrlich benennen – oder das Fiasko in den Farben Blau und Grün zu übermalen versuchen.
Ab jetzt überlagert in der Politik der Wunsch nach Machterhalt offensichtlich die Vernunft. Anstatt noch ein paar wenige Wochen abzuwarten, wird herumexperimentiert und riskiert, dass die Ansteckungszahlen wieder steigen und wir noch monatelang in einer Corona-Schleife gefangen sind.
Es möge in diesem Zusammenhang bitte keiner auf die „Notbremse“hereinfallen, die sich die Runde um die Kanzlerin am Mittwochabend ausgedacht hat. Eine Notbremse löst man aus und dann steht binnen Sekunden alles still. Das Virus aber, das haben wir gelernt, lässt sich nicht so Knall auf Fall abschalten.
Die „Notbremse“kann das Virus nicht stoppen