Augsburger Allgemeine (Land West)
Der Kretschmann halt
Landtagswahl Seit zehn Jahren regiert Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg. Er hat das Land verändert, seine Partei mehrheitsfähig gemacht. Gefahr droht dem einzigen grünen Ministerpräsidenten ausgerechnet aus einer Ecke, aus der er es nicht erwartet
Stuttgart Schlichter könnte die Botschaft nicht sein. „Grün wählen für Kretschmann“steht auf den Wahlplakaten, die seit Wochen an den Laternenmasten und vor den Bushaltestellen in Stuttgart, Heilbronn und Karlsruhe hängen. Als Sandra Detzer, Landeschefin der Grünen in Baden-Württemberg, die Poster für die Fernsehkameras enthüllt, muss sie selbst ein wenig schmunzeln. Es ist der gleiche Slogan, den die Partei schon vor fünf Jahren plakatiert hat. Er drücke einfach am besten aus, was sich die Menschen am meisten wünschen, sagt sie entschuldigend: eine weitere Amtszeit von Winfried Kretschmann als Ministerpräsident. Auf einem anderen Plakat steht in großer Schrift: „Sie kennen mich.“Auch das kommt einem irgendwie bekannt vor. War das nicht mal der Spruch von Merkel?
Es ist eine eigentümliche Zeit gerade in Baden-Württemberg. Merkwürdig leise dümpelt der Wahlkampf, durch die Pandemie ist er fast vollständig in die Medien verlagert. Ein TV-Duell hier, ein Podcast dort. So richtig in Wallung gerät nichts. „Ich komme in der CoronaKrise nur schwer in den Wahlkampfmodus“, gibt Winfried Kretschmann unumwunden zu. Die Haare sind im Lockdown ein wenig länger geworden, die berühmte Stoppelfrisur ragt nicht mehr ganz so steil in Richtung Himmel, sondern legt sich an den Kopf. Manchmal wirken seine Augen müde, die Stimme brüchig. Die Brustkrebserkrankung seiner Frau belastet ihn.
Doch es gibt nur wenige Politiker, die so gut wie Kretschmann von der einen auf die andere Sekunde Präsenz zeigen können. Es ist, als ob er einen inneren Schalter umlegt, eine Art Super-Booster zündet. „Wir befinden uns gerade in einer schweren Phase der Pandemie, da habe auch ich oft kaum Kapazitäten für irgendwas anderes“, sagt er.
Doch eigentlich ist natürlich auch dieser Satz Wahlkampf. Denn er lässt den Gegner wissen: Während ihr um die Macht balgt, muss ich erst mal die Welt retten.
Da ist er wieder, der Landesvater, der mit ruhiger Hand durch tosende Gewässer steuert und als Reaktion auf seine sich abstrampelnde Herausforderin Susanne Eisenmann von der CDU höchstens mal kurz die Augenbraue lupft und die Stirn in Falten legt. Er kann es sich leisten. Denn Kretschmanns Ausgangsposition könnte gut eine Woche vor der Wahl kaum besser sein. 34 Prozent könnten Kretschmanns Grüne holen, die CDU dümpelt bei beinahe tragischen 28 Prozent. Für eine Partei, die Baden-Württemberg 58 Jahre lang in einer Art schwarzer Erbmonarchie geführt hat, ist das ein schmerzhafter Tiefschlag.
Doch was noch schlimmer ist: Sogar 65 Prozent der CDU-Anhänger im Südwesten wollen den Grünen als Regierungschef behalten – nur 22 Prozent trauen ihrer eigenen Kandidatin den Posten zu. Die Umfragen sind keine wirkliche Überraschung. „Mit Kretschmann könnte ich schon morgen ein Bündnis für ganz Deutschland machen“, schwärmte CSU-Chef Horst Seehofer bereits im Jahr 2017. Auch sein Nachfolger Markus Söder hat ein vertrauensvolles Verhältnis zum Amtskollegen jenseits der Landesgrenze, der so ganz anders auftritt als die Grünen bei ihm daheim.
Zehn Jahre ist Winfried Kretschmann, „der Kretsch“, inzwischen im Amt. Und Freund wie politischer Feind können ihm eines nicht absprechen: Er hat Baden-Württemberg verändert. Nicht weil er mehr Radwege gebaut oder Bahnstrecken elektrifiziert hat oder weil seine Partei es war, die einen Nationalpark gegen viele Widerstände durchgesetzt hat. Kretschmann ist etwas viel
Größeres gelungen: Er hat die Grünen im Südwesten dieser Republik zu einer Volkspartei gemacht. Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf wünscht sich Kretschmann als Kanzlerkandidat. Der konservative Trigema-Chef Wolfgang Grupp sagt in Interviews jedem, der es hören will, dass er am 14. März die Grünen wählen wird.
Bis heute gehört es zu den Pointen, dass Kretschmann eigentlich in der falschen Partei sei. Einer, der im Herzen konservativ ist und nur durch die Ironie des Schicksals oder einen göttlichen Sekundenschlaf bei den Grünen gelandet ist. Dass er einst Mitglied einer maoistischen Studentengruppe war? Geschenkt! Der 72-Jährige weiß um seinen Status, auch wenn er damit kokettiert. „Neulich wurde ich gefragt, ob meine Zustimmungswerte hierzulande so hoch seien, weil oder trotzdem ich ein Grüner bin“, sagt er. „Die Antwort lautet: beides.“Seine Erklärung: „Ich kenne einfach das Land, seine Traditionen und die Mentalität der Menschen.“
Einer, der Kretschmann seit vielen Jahren beobachtet, ist Ulrich Eith. „Kretschmann hat einen bürgerlichen Habitus, er spricht Dialekt, ist bewandert in der politischen Philosophie, ist engagiert in der lokalen Fastnacht, hat eine Kirchenbindung – das sind alles Insignien, die auch Konservative schätzen“, sagt der Politikwissenschaftler aus Freiburg. Kretschmann ist jemand, der im Urlaub Homer liest – natürlich auf Altgriechisch. Jemand, der mit den Rempeleien der Machtpolitiker nicht viel anfangen kann. Zu seinem Amtsantritt im Jahr 2011 sagte er: „Ich bin naiv, und das werde ich mir auch erhalten.“
Doch täuschen lassen sollte sich niemand: Das Wort naiv passt so gar nicht zu dem Landespolitiker. Pragmatisch trifft es wohl eher. Kretschmann, der im Januar 1980 zu den Gründungsmitgliedern der Grünen gehörte, vertritt nicht immer die reine Parteilehre. Gerade dem linken Flügel im fernen Berlin geht das bisweilen zu weit. Der Hype um den Schwaben nervt nicht wenige Fundis, bieder wirkt er, von Kreuzberg oder Friedrichshain aus betrachtet.
Der Kanzlerinnen-Versteher. Der Asylrechts-Verschärfer. Der Autobauer-Verhätschler. Inzwischen weiß man auch dort, dass von Kretschmann lernen - siegen lernen bedeutet.
Kretschmann weiß seit Jahren: Nur mit Grünen-Wählern ist kein Staat zu machen – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Und doch führt er in gewisser Weise nur eine Tradition fort. Die Grünen in Baden-Württemberg waren nämlich immer anders als die Grünen im Bund. Schon als es noch den vermeintlich ewigen Konflikt zwischen Realos und Fundis gab, pfiff man zwischen Neckar und Bodensee auf ideologische Grundsätze. Umweltschutz ja, aber kein linker Verteilungskampf. Nicht umsonst waren es zwei Städte im Südwesten, die die ersten grünen Oberbürgermeister wählten: 1996 in Konstanz, 2002 in Freiburg. Ohne Stimmen, die über die Kern-Wählerschaft hinausgehen, wäre das kaum zu machen.
Und doch war es eine kleine Sensation, als der Grüne vor zehn Jahren in die Stuttgarter Staatskanzlei einzog – für viele eine Art Betriebsunfall. „Als Kretschmann Ministerpräsident wurde, hat so mancher prophezeit, dass in Baden-Württemberg die Lichter ausgehen werden“, erinnert sich Eith. „Heute wissen die Menschen: Der Wohlstand hat unter den Grünen keineswegs abgenommen.“Damals waren es die berühmten Wassertropfen, die das Fass für viele Wähler zum Überlaufen gebracht hatten. Die Reaktor-Katastrophe in Fukushima. Der „schwarze Donnerstag“im Stuttgarter Schlossgarten, als die Polizei im Streit um Stuttgart 21 Wasserwerfer gegen Schüler einsetzte. Ein zunehmend arrogant und selbstgefällig auftretender Ministerpräsident Stefan Mappus, der dachte, die Macht auf ewig für seine Partei gepachtet zu haben.
Plötzlich wurde wahr, was nicht wahr sein konnte: Die Grünen landeten bei der Landtagswahl 2011 vor der SPD – zwar noch hinter der CDU, aber weil die keinen Koalitionspartner fand, flog sie aus der Staatskanzlei. „Die CDU hat sich damals in Machtfragen in der Führungsebene aufgerieben und den Kontakt zu den Menschen verloren“, sagt Eith. „Das Ausmaß der Frustration der CDU-Wähler war enorm.“Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Die CDU in Stuttgart navigiert ohne personellen und inhaltlichen Kompass. Vielen Wählern ist schlicht nicht mehr klar, warum sie der Partei überhaupt ihre Stimme geben sollten, wo doch Kretschmann die gleichen Werte vertritt. Das Kuriose an dieser Tatsache: Nach wie vor ist die CDU im Flächenland Baden-Württemberg tief verankert, stellt die Mehrzahl der Bürgermeister und Landräte, sie ist präsent im öffentlichen Leben.
„Kretschmann ist nicht gewählt worden, um in diesem Land alles auf den Kopf zu stellen“, sagt Politikwissenschaftler Eith. „Die Leute wollten einen anderen Politikstil.“Die „Politik des Gehörtwerdens“hat der Ministerpräsident das schon vor zehn Jahren getauft und gleich hinterhergeschoben, dass das nicht bedeute, dass auch jeder er-hört werde. Eingeführt wurden Zufallsbürger-Runden, also Beteiligungsprojekte mit Bürgern, die zu einem Thema gehört werden. Der Graben zwischen Politik und Bevölkerung sollte zugeschüttet werden. Die Pflicht zu einer Beteiligung der Menschen floss in die Verwaltungsvorschriften. „Studien zeigen uns sogar, dass Baden-Württemberg heute bei der Bürgerbeteiligung führend in Deutschland ist“, sagt Kretschmann. „Meine Regierung hat die Amtsstuben in den letzten zehn Jahren richtig durchgelüftet.“
Aber was ist mit den grünen Kernanliegen? Ist Baden-Württemberg wirklich „grüner“als andere Bundesländer? „Wir haben den Naturschutz oben auf die Agenda gesetzt – und dabei in den letzten Jahren viel erreicht: den Anteil der Erneuerbaren an der Stromerzeugung seit 2011 fast verdoppelt“, sagt der Ministerpräsident.
Wahr ist aber auch, dass inzwischen fast sieben Jahre vergehen, ehe ein Windrad genehmigt und gebaut ist – wenn es denn überhaupt dazu kommt. Dass Kretschmann die Autoindustrie schützt und sich im vergangenen Jahr für eine Kaufprämie eingesetzt hat. Dass die großen Linien der Klimapolitik ohnehin nicht in der Villa Reitzenstein, sondern in Berlin gezogen werden.
Genau das könnte nun für Kretschmann zum Problem werden. Denn Gefahr droht ihm ausgerechnet von dort, wo man es wohl am wenigsten vermuten würde: von Klimaschützern. Aus der Fridaysfor-Future-Bewegung ist eine Partei entstanden. Die „Klimaliste“will bei der Landtagswahl in BadenWürttemberg erstmals antreten. Dabei müsste die Gruppierung gar nicht unbedingt ins Parlament kommen, um Einfluss auf den Wahlausgang zu nehmen. „Sollte die Klimaliste
drei Prozent bekommen bei der Wahl, können die in der Endabrechnung den Grünen und Kretschmann fehlen“, sagt Eith.
Franziska Grotz gehört zu den Gründerinnen der Klimaliste Baden-Württemberg, kümmert sich dort um Mitgliederbetreuung und Öffentlichkeitsarbeit. Grenzüberschreitendes Polit-Management, wenn man so will. Die 21-Jährige engagiert sich in ihrer bayerischen Heimatstadt Kempten auf lokaler Ebene bei der Gruppe „Future for Kempten“, die es inzwischen sogar in den Stadtrat geschafft hat.
Die jungen Wilden werden längst nicht mehr belächelt, sie sind so, wie die Grünen selbst früher einmal waren: unkonventionell, unbelastet, mit flachen Hierarchien und hochgesteckten Zielen. Trotz Corona ist es der Gruppe gelungen, genügend Stimmen zu sammeln und sich so die Zulassung für die Landtagswahl zu sichern. „Wenn ,Fridays for Future‘ nicht genug zu den Politikerinnen und Politikern durchdringt, müssen wir halt selbst Politik machen“, sagt Grotz selbstbewusst. Vor allem junge Menschen sind es, die sich in der Klimaliste organisieren, die noch ein wenig grüner sind als die Grünen.
Warum nicht dann gleich dem „Original“beitreten? Eher nicht. Das Thema Klimaschutz sei zu wichtig, um sich erst einmal durch die Machtstrukturen einer Partei an jene Stelle zu ackern, an der man Einfluss nehmen kann. Kompromisse sind ihre Sache nicht. „Es gibt Momente, in denen man sich an seine Ideale halten soll“, sagt die junge Wahlkämpferin. „Ich halte es für falsch, die Automobilindustrie zu fördern, solange die Verbrennungsmotoren baut.“
Klar, Kretschmann mache seine Aufgabe als Ministerpräsident schon gut. Aber sei nicht allein die Tatsache, dass er auch bei den CDU-Anhängern Anklang findet, der beste Beweis, dass er nicht immer seinen Idealen treu geblieben ist? Den Grünen
BadenWürttemberg war schwarze Erbmonarchie
Hat Kretschmann grüne Ideale verraten?
sei es wichtiger geworden, mitregieren zu können, und dafür hätten sie umweltpolitische Kollateralschäden akzeptiert. Tatsächlich ist Kretschmann die Koalitionsdisziplin von enormer Bedeutung – er will Verlässlichkeit zeigen. Was im Zusammenspiel mit der CDU nicht immer ein Kinderspiel ist. Viele Themen, die in seiner ersten Amtszeit mit der SPD noch angegangen wurde, sparte die grün-schwarze Regierung lieber aus. Man wusste nur zu gut: Kompromisse sind hier kaum zu finden. „In Baden-Württemberg führen die Grünen seit zwei Legislaturperioden die Regierung an, trotzdem spielt der Klimaschutz keine wesentlich größere Rolle als in den anderen Bundesländern“, sagt die Allgäuerin Grotz.
Einen Erfolg kann die junge Partei schon für sich verbuchen: Die Grünen in Baden-Württemberg haben in ihr Parteiprogramm das Ziel der Pariser Klimakonferenz aufgenommen, dass die Erderwärmung nicht stärker als 1,5 Grad ansteigen soll. Tod durch Umarmung also? Franziska Grotz nimmt’s gelassen. „Das hat bei uns zu Diskussionen geführt, inwiefern wir unser Alleinstellungsmerkmal verloren haben“, gibt die junge Frau zu. „Das Problem ist: In den Wahlprogrammen der Parteien standen schon viele gute Ideen – aber umgesetzt wurden die nicht immer.“
Und noch etwas wurde diskutiert: Ob ausgerechnet sie den ersten grünen Ministerpräsidenten stürzen wollen. „Die Bedenken gibt es natürlich bei der Klimaliste“, sagt Franziska Grotz. „Aber aktuell sehe ich keine Gefahr, dass wir den Grünen Stimmen wegnehmen.“Wie sie zu der Erkenntnis kommt? „Die allermeisten neuen Mitglieder, mit denen ich spreche, würden die Grünen ohnehin nicht wählen – weil sie von deren Politik enttäuscht sind.“