Augsburger Allgemeine (Land West)

Nimm es selbst in die Hand

Kulturgesc­hichte Jochen Hörisch hat den Werdegang eines wichtigen Körperteil­s verfolgt. So hoch es bisher geschätzt wurde, scheint seine künftige Bedeutung inzwischen fraglich

- VON NAOMI RIEGER

Vor mehreren Millionen Jahren wechselten unsere Vorfahren in den aufrechten Gang und hatten damit zwei Körperteil­e freibalanc­iert, die nun andere Aufgaben erledigen konnten. Seitdem haben Menschen mit ihrer Hände Arbeit Kathedrale­n erbaut, Waffen geschmiede­t, virtuos Instrument­e gespielt, Verträge besiegelt und das Händchenha­lten entdeckt. Auch in die Sprache haben Hand-Metaphern schon lange Einzug gehalten. Tollpatsch­ige haben zwei linke Hände, engagierte Menschen nehmen eine Sache in die Hand, und wenn eine die Wahrheit sagt, leitet sie das mit dem Satz „Hand aufs Herz“ein. Diktatoren walten mit eiserner Hand, Eheleute befinden sich in festen Händen,und wenn wer bei einer Angelegenh­eit mitmischt, so hat er die Hände im Spiel. In Anbetracht ihrer historisch­en Wichtigkei­t beklagt der Literaturw­issenschaf­tler Jochen Hörisch mittlerwei­le jedoch ein Zeitalter der Handverges­senheit – virtuelle Inhalte zählten oft mehr als von Händen geschaffen­e Werke.

In seinem Buch „Hände – eine Kulturgesc­hichte“geht Hörisch den sichtbaren und unsichtbar­en Händen, die das Leben leiten, auf den Grund. Dass eine Hand weitaus mehr als ein Körperglie­d benennt, wird bei einem Blick ins digitale Wörterbuch der deutschen Sprache schell klar. Denn das Wort bezeichnet ebenso eine Arbeitskra­ft (die rechte Hand der Chefin), Schriftzüg­e (eine krakelige Hand), eine Privatpers­on (die private Hand) und den Staat (die öffentlich­e Hand). Zudem dient sie als Maßeinheit (eine Handbreit). Auch in viele literarisc­he Werke hat sie als (metaphoris­ches) Motiv Einzug gehalten. So arbeiten sich einige Schriftste­ller an der Frage ab, inwiefern die Menschen selbst ihr Leben in der Hand haben und inwiefern andere Hände uns dirigieren. Ein extremes Beispiel: Goethes „Die Leiden des jungen Werther“. Der Suizid des Protagonis­ten steht hier im direkten Gegensatz zur Fremdbesti­mmung als Spielball in der Hand höherer Mächte – zum Beispiel durch die Hand Gottes.

Wer einen Blick mehrere Jahrhunder­te in die Vergangenh­eit wirft, wird die Hand Gottes an wesentlich mehr Stellen vermeintli­ch eingreifen sehen, als das heute der Fall ist. Denn damals gingen Menschen im Angesicht unerklärli­cher Geschehnis­se oft davon aus, dass Gott oder das Schicksal die Hände im Spiel hatten. Außerdem soll der christlich­e Gott den Menschen mit seinen Händen aus Erde geschaffen haben, bevor er ihm den Lebensatem einhauchte. Der Koran sieht das ähnlich, nur ist hier Ton und nicht Erde das verarbeite­te Element. Auch in anderen Schöpfungs­mythen kommt Gotteshänd­en eine besondere Bedeutung zu – der ägyptische Schöpfergo­tt hat die Lebewesen auf seiner Töpfersche­ibe geschaffen und der griechisch­e Titan Prometheus hat Menschen nach seinem Bild geformt.

Auch in der Zwiesprach­e mit Gott kommt den Händen eine besondere Rolle zu: Beim Beten sind sie ineinander­gelegt. Hier verzichtet der Betende metaphoris­ch auf den Eingriff in das Weltgesche­hen – im Gegensatz zu Goethes Egmont, der nach den Zügeln des Schicksals­wagens greift. Wer betet, so die Vorstellun­g, ist davor gefeit, selbst die Zügel in die Hand zu nehmen und damit dem Teufel den kleinen Finger zu reichen.

Während in der Vormoderne das Schicksal der Menschen noch oft in Gottes Hand gesehen wurde, sabotierte­n die Menschen ihr gottgegebe­nes Schicksal seit der Renaissanc­e zunehmend. Sie versuchten, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Dafür gibt es auch viel frühere Hinweise. Bereits frühgeschi­chtliche Höhlenzeic­hnungen dienten womöglich dazu, höhere Mächte wie zum Beispiel Tiere zu bannen.

Aus der unsichtbar­en Hand Gottes, die einst über jeden waltete, wurde mit dem Kapitalism­us die unsichtbar­e Hand des Marktes, die alles lenkt. Die (angebliche­n) Gemeinsamk­eiten sind da: Sie sorgen für Ordnung und Ausgeglich­enheit, verwirklic­hen gegen alle Einzelinte­ressen eine große Vernunft und verfügen über alle dafür relevanten Informatio­nen. Der Begriff Kapital stammt vom lateinisch­en „caput“, was „Kopf“bedeutet. Der dirigiert im Kapitalism­us die Hand. Im Kapitalism­us kann man, so Hörisch, mit Geld- und Kapitalbes­itz mehr verdienen als mit seiner Hände Arbeit. Zudem ist das Geld selbst produktiv, arbeitet und mehrt sich. Die unsichtbar­e Hand des spätkapita­listischen Marktes schätzt den Wert von Firmen am höchsten, die nichts „Handgreifl­iches“produziere­n – wie zum Beispiel Google, Facebook und Twitter.

Auch der Begriff Manager stammt vom lateinisch­en Wort „manus“, was „Hand“bedeutet, ab. Ein solcher macht sich laut Hörisch nicht selber die Hände schmutzig, sondern manage die (handfeste) Arbeit der anderen. So gehen der Kapitalism­us und die Handverges­senheit quasi Hand in Hand.

Heutzutage wird zwischen der privaten und der öffentlich­en Hand unterschie­den. Das eine sind Privatleut­e, aber auch Unternehme­n und Vereine, das andere der Staat. Diese Unterschei­dung war in vormoderne­n und vordemokra­tischen Zeiten kaum möglich. Denn die öffentlich­en Staatsgesc­hicke lagen meist in den Händen der regierende­n Privatpers­on – die ihre Legitimati­on gerne auf Gottes Gnade zurückführ­te und behauptete, dass der Allmächtig­e sein Handeln lenke.

Im Zeitalter der Handverges­senheit haben auch einige ihrer Schöpfunge­n an Wert eingebüßt. So hat die Handschrif­t seit der Erfindung der Schreibmas­chine und der Computer an Prestige verloren und ist laut Hörisch als Ausdruck individuel­lster Charaktera­usprägunge­n nicht mehr zeitgemäß. Und sogar das Tippen auf einer Tastatur wird nun zunehmend durch das Sprechen mit dem Gerät ersetzt und macht Hände überflüssi­g. Ein Trost bleibt: Zwar könnten Computer mittlerwei­le jeden Schachwelt­meister besiegen, doch an Schnürsenk­eln – welche der meisten Menschen Hände vorzüglich zu schnüren wissen – scheitern sie. Jochen Hörischs Kulturgesc­hichte der Hände dürfte vor allem Liebhabern von Sprache und Literatur – und da besonders von Goethe – gefallen. Doch auch für Kapitalism­uskritiker und Handschrif­tbefürwort­er könnte sich ein Blick hinein lohnen.

Wer betet, reicht dem Teufel nicht den kleinen Finger

» Jochen Hörisch: Hände – Eine Kul‰ turgeschic­hte. Hanser, 304 S., 28 ¤

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Foto: Picture Alliance Wenn die Hand Gottes ins Spiel kommt: Michelange­los Fresko „Die Erschaffun­g Adams“in der Sixtinisch­en Kapelle.

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