Augsburger Allgemeine (Land West)
Der neue Pop ist endlich Frauensache
Rebekka Kricheldorf: Lustprinzip Rowohlt, 240 Seiten, 20 Euro
Ob es mit „Feuchtgebiete“begann? 13 Jahre liegt der dann auch verfilmte und in „Schoßgebete“fortgesetzte Bestseller zurück. Und zumindest was die öffentliche Aufmerksamkeit und die heiß debattierte Frage angeht, ob es denn emanzipatorisch sei, so offen und unmittelbar die Lust einer jungen Frau zu beschreiben, markiert Charlotte Roche einen Einschnitt. Das war jedenfalls ganz anders als der aufgepeitschte Aschenputtel-Kitsch von „Fifty Shades of Grey“: Pop. Und im Gegensatz zu dem sehr männlich geprägten 90er sehr explizit weiblich.
Gefolgt sind hierzulande reichlich wuchtige Stücke wie „M“der Autorinnen Anna Gien und Marlene Stark und internationale Bestseller wie die fulminante „Vernon Subutex“-Trilogie der Französin Virginie Despentes. Zum Herz dieses Trends führen zwei aktuelle Bücher, sie führen von den Ursprüngen der Pop-Literatur zu ihrer heute häufigsten Erscheinungsform als literarischer Grenzfall.
Da ist zum einen: „Lustprinzip“, das Romandebüt von der als Dramatikerin längst etablierten Rebekka Kricheldorf. Wie ein doppeltes Korrektiv zu den Bürschchen-Büchern der Pop-90er führt es exakt in jene Zeit zurück, aber auf die weibliche Seite und die anti-bürgerliche. Die 22-jährige Larissa treibt sich in der Kapitalismus-Brache im Berliner Nachwende-Osten herum. Und knüpft in Leseleidenschaft und Lebensentwurf an die Beat-Poeten an: Ginsberg, Burroughs, Kerouac, Bukowski. Es geht mit mächtigem Drive um Identitäts- und Intensitätssuche, um Sex und Drogen, Liebe und Freiheit, in Klamotten vom Straßenmarkt statt in Barbour-Jacke, auf dem Frühstückstisch Discounter-Fusel statt Nutella.
Und „Lustprinzip“(bloß stilisiert mit v statt u): So heißt ja auch der größte deutschsprachige Sexblog. Dessen Gründerin Theresa Lachner empfiehlt aktuell „Wie man mit einem Mann unglücklich wird“. Zum anderen also: die Autorin Ruth Herzberg. Gesetzt wie in Blogbeiträgen berichtet bei ihr die Ich-Erzählerin in körperlich und seelisch schonungsloser Offenheit von einer geradezu psychotischen Beziehung. Zwischen Tinder-Sex und Erlösungsromantik, Freiheitssehnsucht und Einsamkeitsdepression – das ist der Pop-Sound von Lust, Leid und Liebe in der Berliner Hipster-Bürgerlichkeit des 21. Jahrhunderts. Kaum auszuhalten – aber alles andere als kaum zu glauben.
Und Charlotte Roche? Macht heute „Paardiologie“, einen Beziehungs-Podcast mit Ehemann Martin Keß-Roche. Wolfgang Schütz