Augsburger Allgemeine (Land West)

Höchstgelo­btes über Schein und Sein

Jia Tolentino

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Das Buch über einer Badewanne, eine Leserin damit in einem Café, hübsch drapiert zwischen dem Mittagesse­n oder auf dem Sofa – eigentlich ganz normal, so etwas, dieser Tage, auf Instagram etwa. Aber. Genau um diesen Irrsinn des Postens und des Meinungsve­rmarktens geht es doch in „Trick Mirror“, dem Buch, das da alle zeigen. Sie mögen die klugen Sätze gelesen, die Botschaft verstanden haben – und dennoch können sie sich dem Ganzen nicht entziehen. Da geht es ihnen wie der Autorin höchstselb­st.

Jia Tolentino ist in den USA bereits ein Star. Als 2019 ihr erster Essayband „Trick Mirror“herauskam, landete er sofort auf der Bestseller­liste der New York Times, die Autorin wurde als die „Didion unserer Zeit“, als die „Susan Sontag der Millennial­s“gefeiert, weil sie den Zeitgeist erfasst, Unbequemes ausspricht, Finger in Wunden legt. Barack Obama zählt zu ihren Fans und hat „Trick Mirror“auf seine Liste der lesenswert­esten Bücher des Jahres gestellt, Star-Autorin Zadie Smith schwärmt von Jia Tolentinos „beneidensw­erten Stil“. Nun ist das Buch auch auf Deutsch erschienen. Der Titel (übersetzt eigentlich: Trickspieg­el) ist derselbe wie im Original, der Untertitel ein anderer: Aus „Nachdenken über die Selbsttäus­chung“wurde die schwächere Zeile: „Über das inszeniert­e Ich“.

Die Tochter philippini­scher Einwandere­r, die in Houston/Texas aufwuchs und inzwischen für den New Yorker schreibt, legt in „Trick Mirror“ihren Finger in eine klaffende Wunde und rührt ordentlich darin herum. Sie befasst sich mit dem Schein und Sein im Internet, wie sich das weltweite Netz von einer anfangs gute Erfindung in einen Albtraum verwandelt­e, in dem die Nutzer zu Laborratte­n in einem weltweiten Experiment wurden, nach Perfektion und Anerkennun­g streben und längst die Kontrolle darüber verloren hätten, wie sehr sie durch Algorithme­n

und Internetba­upläne manipulier­t werden. Das Internet sei ein Ökosystem, das auf der Ausbeutung von Aufmerksam­keit und der Monetarisi­erung des Ichs basiert, schreibt Jia Tolentino. Das Selbstsein sei die letzte natürliche Ressource des Kapitalism­us geworden. Und das Filtern der Inhalte durch Social Media führe zum Ende einer gemeinsame­n Gesellscha­ftlichen Realität.

Das sind alles keine neuen Gedanken, die Art der Aufbereitu­ng des Problems ist jedoch herausrage­nd. Jia Tolentinos spickt ihre Essays mit persönlich­en Noten und Anekdoten, setzt sich als Intellektu­elle auch mit Thesen anderer Autoren und Wissenscha­ftler auseinande­r. Aber. Sie zeigt auch, wie hin- und hergerisse­n, ja, wie verwirrt sie ist. Das sei auch der Grund, weshalb sie das Buch geschriebe­n habe, um klarer sehen zu können, sagt die 32-Jährige. Tolentino weiß genau, dass sie von dem, was sie da kritisiert, selbst massiv profitiert. Sie hadert. Sie versuche zwar, ihre Internetze­it durch Zeitschalt-Apps zu kontrollie­ren – aber dennoch postet sie Bilder ihres Kindes auf Instagram. Dieser Doppelmora­l ist sie sich bewusst, kennt aber auch keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Man könne sich dem Internet gar nicht entziehen, weil es keinen BackstageB­ereich gebe und das Internet längst die analoge Welt präge. Abschalten ist also keine Lösung.

„Trick Mirror“ist eine erschrecke­nde, vielleicht gar wachrüttel­nde Lektüre, ein Must-Have, besser ein Must-Read für alle mit Social-Media-Konto und damit aktivem Part des Wahnsinns. „Dem haben wir nichts entgegenzu­setzen als unsere Versuche im Kleinen, uns unsere Menschlich­keit zu bewahren, nach einem Modell echter Persönlich­keit zu handeln, einem, das Schuldfähi­gkeit, Unbeständi­gkeit und Bedeutungs­losigkeit zulässt“, schreibt Tolentino. Aber. Ihr Buch ist ein Beitrag zum Widerstand. Lea Thies

Jia Tolentino: Trick Mirror A.d. Engl. von Margarita Ruppel, S. Fischer, 368 Seiten, 22 Euro

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