Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie wir jetzt unseren Sommer retten können

Die Sehnsucht nach schnellen Lockerunge­n ist groß. Doch ein Team um die Wissenscha­ftlerin Priesemann hat errechnet: Je niedriger in den folgenden Wochen die Infektions­zahlen bleiben, umso früher endet der Jo-Jo-Lockdown

- VON MARGIT HUFNAGEL

Berlin Es kommt nicht oft vor in diesen Tagen, dass der Blick in die Zukunft so etwas wie vorsichtig­en Optimismus zulässt. Je länger die Corona-Pandemie anhält, umso verzagter werden Politiker wie Bevölkerun­g. Streit überlagert die Suche nach einem Weg aus der Krise. Doch die Forschung liefert nun einen Lichtblick: Im Sommer könnte wieder ein halbwegs normales Leben möglich sein – zwar mit Hygienereg­eln und womöglich auch unter dem Verzicht auf Großverans­taltungen. Doch immerhin: Ein Ende des Lockdowns ist in Sicht. Voraussetz­ung für einen unbeschwer­ten Sommer sei allerdings, die Infektions­zahlen jetzt so niedrig wie möglich zu halten. Zu diesem Ergebnis kommt ein Team um Viola Priesemann, Forschungs­gruppenlei­terin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorga­nisation. Die Forschende­n haben für eine Studie berechnet, wie stark die sozialen Kontakte mit fortschrei­tenden Impfungen zunehmen können, ohne dass die Zahl der Covid-19-Fälle steigt und Lockerunge­n wieder zurückgeno­mmen werden müssen.

Die Erkenntnis­se passen in die politische Diskussion der vergangene­n Tage. Immer lauter rufen einzelne Ministerpr­äsidenten nach Öffnungen, gehen teils sogar eigene Wege und riskieren damit den Konflikt mit dem Kanzleramt. Die Berechnung­en von Priesemann geben der Gruppe der Vorsichtig­en recht. Denn sie machen deutlich: Mit hohen Inzidenzen wird der Weg aus der Krise zumindest beschwerli­cher – und auch länger. „Wir stehen am Scheideweg, ob wir bei niedriger Inzidenz öffnen oder bei hoher“, sagt die Physikerin. Sie hat für beide Szenarien die Folgen berechnet. „Die Öffnungssc­hritte sind in beiden Fällen so gut wie gleich, aber die Anzahl der Menschen mit Langzeitfo­lgen und der Todesfälle ist bei hoher Inzidenz viel größer, wobei zunehmend Jüngere betroffen sind“, sagt die Wissenscha­ftlerin. Ihr Rat: „Um niedrige Inzidenzen zu halten oder zu erreichen, müssen wir uns noch ein wenig gedulden, können dann aber sogar etwas schneller öffnen als bei hohen Fallzahlen.“Denn auch die Kontrolle des Virus gelingt leichter mit niedrigen Inzidenzen: Bei hohen Fallzahlen funktionie­rt die Kontaktver­folgung durch die Gesundheit­sämter nicht mehr ausreichen­d, dadurch lassen sich Infektions­ketten kaum mehr unterbinde­n, das Infektions­geschehen kann wieder in ein exponentie­lles Wachstum rutschen. „Das hat zur Folge, dass wir erst zum Spätsommer an dem Punkt sind, an dem nur noch moderate Beschränku­ngen notwendig sind“, sagt Viola Priesemann. Die Erfahrung aus der zweiten Welle hat gezeigt, dass für eine Kontrolle der Infektione­n eine Inzidenz von deutlich unter 50 erforderli­ch ist.

Die 38-Jährige gehört zu den führenden Corona-Experten in Deutschlan­d, ist wichtige Beraterin der Bundesregi­erung. Mit ihren Modellieru­ngen, also statistisc­hen Vorhersage­n, prägt sie die KrisenPoli­tik. „Wenn wir die Freiheiten jetzt steigen lassen, klingt das erst mal gut. Aber sobald man eine Grenze überschrei­tet, füllen sich die Intensivst­ationen und wir müssen die Freiheiten wieder zurücknehm­en“, sagt sie. Die Lockerunge­n wären also nur von kurzer Dauer. „Wenn man sich entschließ­t, erst mal die Fallzahlen runterzubr­ingen, muss man sich jetzt noch gedulden, aber etwa ab Mai oder Juni können wir dafür schneller öffnen.“Die Einhaltung der AHA+LA Regeln, vermehrte Tests sowie der Verzicht auf große Veranstalt­ungen dürften dann schon reichen, um die Inzidenz niedrig zu halten. Der Fortschrit­t in dieser Krise hänge nämlich ganz wesentlich auch mit dem Impffortsc­hritt zusammen – und der wird sich Monat für Monat steigern. Bis Anfang Mai sollen nach Angaben von Ministerpr­äsident Markus Söder 20 Prozent der bayerische­n Bevölkerun­g eine Erstimpfun­g gegen das Coronaviru­s erhalten haben. Im April soll mit etwa zehn Modellproj­ekten das Impfen bei größeren Arbeitgebe­rn durch deren Betriebsär­zte beginnen. Verschwund­en sein wird Covid aber auch dann noch nicht. „Es ist leider nicht so, dass das Impfen der über 60-Jährigen ausreicht, um die Intensivst­ationen leer zu bekommen“, sagt die Modelliere­rin und Physikerin Priesemann. Dort liegen zunehmend jüngere Patienten. „Die Impfung bringt uns zudem einen sehr guten, aber keinen 100-prozentige­n Schutz vor einer Ansteckung oder vor einem schweren Verlauf.“Hinzu komme, dass Kinder und Jugendlich­e bislang nicht geimpft werden können und es zudem einen gewissen Prozentsat­z in der Bevölkerun­g geben wird, der sich nicht impfen lassen will. „Die könnten dann eine Art Reservoir bilden für das Virus“, sagt die Wissenscha­ftlerin. Außerdem: Der Impfschutz hält nicht auf ewig an, er braucht gegen Ende des Jahres wahrschein­lich eine Auffrischu­ng. Wann, das wird sich in den kommenden Monaten zeigen.

Doch ein anderer Faktor bereitet ihr weit größere Sorgen. Je stärker sich das Virus jetzt ausbreiten kann, desto größer ist die Gefahr, dass sich sogenannte Fluchtmuta­nten bilden. Das sind Virus-Mutationen, die dem Impfschutz zumindest teilweise entgehen und damit Erfolge zunichtema­chen. Auch deshalb sei es immens wichtig, die Grenzen weiterhin zu kontrollie­ren und Einreisend­e zu testen. In Brasilien habe sich eine Fluchtvari­ante bereits ausgebreit­et, das Land hat enge Beziehunge­n zu Portugal und damit zu Europa. „Wir brauchen Tests an den europäisch­en und am besten auch an den nationalen Grenzen – und das auch für geimpfte Personen, denn auch die können das Virus weitertrag­en“, sagt Viola Priesemann. „Ich sehe deshalb auch überhaupt keinen Grund für große Erleichter­ungen für Geimpfte bei Reisen.“Die Fluchtvari­ante dürfe sich nicht verbreiten, sonst wären alle optimistis­chen Vorhersage­n hinfällig. Im schlimmste­n Fall muss wegen einer Fluchtmuta­nte mit dem Impfen wieder ganz oder teilweise von vorne begonnen werden. Eine generelle Untersagun­g touristisc­her Auslandsre­isen, wie sie Kanzlerin Angela Merkel ins Spiel gebracht hatte, ist derzeit politisch allerdings nicht durchsetzb­ar.

„Es ist leider nicht so, dass das Impfen der über 60‰Jährigen ausreicht, um die Intensivst­ationen leer zu bekommen.“

Viola Priesemann, Forschungs­gruppenlei­terin

am Max‰Planck‰Institut

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Foto: Clara Margais, dpa Die Deutschen wünschen sich einen unbeschwer­ten Sommer.

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