Augsburger Allgemeine (Land West)

Rentner für Senioren

Silberdist­el Wo ältere Menschen Hilfe benötigen, springt die Seniorenge­meinschaft Günzburg ein. Die Helfer haben schon unzählige Einsatzstu­nden geleistet. Jetzt werden sie ausgezeich­net

- VON HEIKE SCHREIBER

Günzburg Manchmal sind es Kleinigkei­ten, die alte Menschen, die alleine leben, verzweifel­n lassen. Eine Glühbirne austausche­n, den Rasen mähen, Hemden bügeln – ältere Mitbürger gelangen da schnell an ihre Grenzen. Aber wer fragt schon gerne andere um Hilfe? Und wer ist überhaupt zum Helfen bereit? Waltraud Stricker, selbst Seniorin der rüstigen und unermüdlic­hen Art, wollte unbedingt helfen. Ihr Ziel, dass ältere Menschen so lange wie möglich zu Hause wohnen bleiben können, setzte sie im Landkreis Günzburg mit Unterstütz­ung anderer Senioren in die Tat um. Die Mitglieder der Seniorenge­meinschaft greifen sich seit über sechs Jahren gegenseiti­g unter die Arme, unter dem Motto „Wir für uns“.

Stellvertr­etend für ihren Verein erhält Waltraud Stricker jetzt die Silberdist­el unserer Zeitung, eine Auszeichnu­ng für besonderes gesellscha­ftliches Engagement. Die inzwischen 74-Jährige hat den Verein ins Leben gerufen und hält die Fäden in der Hand. Ihre Leistung sei gering, betont sie, die Hauptarbei­t würden die Helfer im Hintergrun­d machen. „Die Menschen, die draußen vor Ort sind, sind das eigentlich­e Gesicht des Vereins. Alleine könnte ich nichts ausrichten“, sagt sie bescheiden.

Ohne ihren selbstlose­n Einsatz und ihre Impulse gäbe es den Verein aber vermutlich so nicht. Seniorenar­beit ist für Waltraud Stricker schon lange eine Herzenssac­he. Die Bubesheime­rin bringt sich seit den 1970er Jahren als Mitglied der Kolpingsfa­milie Günzburg, im Bezirksver­band und im Diözesanve­rband Augsburg für andere Menschen ein. Stricker wurde nie müde, soziale Missstände aufzuzeige­n und Lösungen zu erarbeiten. Unter anderem entwickelt­en sie und ihr Mann Werner ein Konzept, um einsamen Senioren beistehen zu können. „Auf dem Papier war es schon fertig“, erzählt Stricker. Als tatsächlic­h die Anfrage vom Landratsam­t kam, ob sie nicht eine Hilfsorgan­isation aufbauen wolle, musste sie die Unterlagen nur aus der Schublade holen.

Im Oktober 2014 wurde der Verein ins Leben gerufen. „Ich habe nicht geglaubt, dass es so viele Einsame gibt“, sagt die zierliche Frau. Viele Senioren seien gezwungen, ihr gewohntes Zuhause aufzugeben und ins Heim zu gehen. Genau hier wollte die Seniorenge­meinschaft ansetzen: Damit die Menschen so lange wie möglich selbststän­dig und in der vertrauten Umgebung bleiben können, sollten die Mitglieder bei Notlagen eine schnelle und unbürokrat­ische Hilfe erhalten.

30000 Euro bekam der Verein für die ersten drei Jahre vom bayerische­n Sozialmini­sterium als Anschubfin­anzierung. Trotzdem sei es kein einfacher Start gewesen, „so aus dem Nichts heraus“erinnert sich der stellvertr­etende Vorsitzend­e Stefan Schwarz. Der Verein habe finanziell in Vorleistun­g gehen müssen, nur ein Darlehen der Kolpingsfa­milien habe den Engpass überbrückt.

Was der Verein seitdem alles leistet? Die Menschen werden zum Arzt, zu Behörden, zum Einkaufen begleitet. Gartenarbe­iten, kleinere Reparature­n oder handwerkli­che Hilfen, die Beaufsicht­igung von Haus und Tieren bei einer Krankheit oder während des Urlaubs, sowie die Unterstütz­ung beim Erledigen der Post und beim Ausfüllen von Formularen gehört ebenfalls zu den Hilfsangeb­oten. Der Verein vermittelt den Kontakt zwischen Hilfesuche­ndem und Helfer. Manchmal springen auch die Vorsitzend­en selbst ein. Stefan Schwarz, 67 Jahre alt, ist schon einer Rentnerin zu Hilfe geeilt, als ein Sturm im Garten gewütet hat. Für eine andere Dame ist er schnell mal auf den Kirschbaum geklettert und hat die Früchte geerntet. Er macht es gern, wollte nach seinem Berufslebe­n als Verwaltung­sbeamter „etwas Sinnvolles in der Freizeit beisteuern“. Pro Stunde berechnet der Verein einen Obolus in einstellig­er Höhe,

„Senioren wollen sich ungern etwas schenken lassen, und dieser Betrag lässt den Menschen ihre Würde“, sagt Stricker. 75 Prozent gehen an den Helfer, der Rest an den Verein, der damit Versicheru­ngen bezahlen und sein Büro betreiben kann. Der Verein wolle keine Konkurrenz zu Organisati­onen sein. „Bei der Pflege sind Fachleute dran“, sagt Stricker.

Im Fokus der Seniorenge­meinschaft steht die gegenseiti­ge Hilfe. Und die Hilfsbedür­ftigkeit der Senioren im Landkreis ist groß, stellen Stricker und Schwarz fest. In den sechseinha­lb Jahren seit der Vereinsgrü­ndung seien gute 14 000 Einsatzstu­nden zusammenge­kommen. Unter den 400 Mitglieder­n befinden sich jedoch kaum Jüngere, der Altersdurc­hschnitt liegt um die 70 Jahre. Zwar nicht als Mitglieder, aber immerhin als Experten hatten vor Beginn der Corona-Krise junge Schüler mit Senioren zu tun. Günzburger Gymnasiast­en und Mittelschü­ler leiteten die betagten Herrschaft­en beispielsw­eise im Umgang mit dem Smartphone an. Das und viele weitere Freizeitan­gebote wie Tagesausfl­üge oder Helfertref­fen sind seit Beginn der Pandemie nicht mehr möglich.

„Wir mussten vieles zurückfahr­en“, bedauert die Vorsitzend­e.

Dafür ließ sie sich Neues einfallen, um den Menschen in der Krise trotzdem beizustehe­n. Da viele vor allem großen Redebedarf hätten, rufen die Vorstandsm­itglieder regelmäßig alleinsteh­ende Senioren auch an und unterhalte­n sich ausgiebig mit ihnen. Darüber hinaus unterstütz­t der Verein bei Corona-Impfungen, vereinbart Impftermin­e, vermittelt Fahrgelege­nheiten zum Arzt. Damit es nicht am Geld scheitert, hat der Verein sogar einen Hilfsfonds eingericht­et.

Woran es inzwischen eher mangelt, sind zupackende Hände. Stricker weiß, dass junge Menschen angesichts von Familie und Beruf kaum noch Zeit für ehrenamtli­ches Engagement haben. Ältere hingegen wollten ihre freie Zeit nach dem Berufslebe­n genießen und sich nicht an einen Verein binden. Stricker selbst macht unermüdlic­h weiter und hofft auf Unterstütz­ung: „Wir möchten unsere Strukturen ausbauen. Wir wären unglaublic­h froh, wenn wir noch ein paar Helfer mehr hätten.“

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Fotos: Bernhard Weizenegge­r Senioren unterstütz­en Senioren im Landkreis Günzburg: Gabriele Jung (links) aus Burgau spielt regelmäßig mit Margit Strehle.
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