Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Wildsau strahlt noch immer

Wald Viele Wildschwei­ne sind im Landkreis Augsburg verstrahlt - selbst 35 Jahre nach Tschernoby­l. Es gibt eine neue Untersuchu­ng zu den Folgen für das Augsburger Land

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Landkreis Augsburg Manchmal ist die Strahlung sogar für das Messgerät zu viel. „Das Messgerät kann Werte bis zu 9999 Becquerel pro Kilogramm anzeigen“, sagt Jagdwirt Jörg Richter, der für seine Abschlussa­rbeit die Belastung von Schwarzwil­d im Landkreis Augsburg nach der Katastroph­e von Tschernoby­l untersucht hat. Dann aber ist einfach Schluss. Doch bei der hohen Strahlung ist das auch schon egal - das Fleisch des Wildschwei­ns ist dann absolut ungenießba­r.

Bereits 35 Jahre ist der SuperGAU jetzt her. In der Nacht auf den 26. April 1986 verloren sowjetisch­e Ingenieure die Kontrolle über ihre Meiler im Atomkraftw­erk Tschernoby­l. Ein Reaktor explodiert­e, radioaktiv­e Stoffe wurden in die Atmosphäre geschleude­rt. Eine schädliche Wolke zog über Europa hinweg - erst Richtung Schweden, dann nach Österreich und Bayern.

„Entscheide­nd war der 30. April vormittags“, erzählt Richter. Dunkle Wolken zogen über Landstrich­e in Schwaben, über den Bayerische­n Wald und den Süden Oberbayern­s. „Es regnete, aber wie in Bayern üblich nur lokal.“

Das Wetter von damals prägt die Landschaft noch heute: In Meitingen zum Beispiel, einem Markt im nördlichen Landkreis Augsburg, sei es trocken geblieben, berichtet der 53-Jährige. „Strahlung ist dort kaum mehr ein Thema.“Doch nur wenige Kilometer weiter südlich regnete es - und die Messgeräte schlagen noch immer aus.

Denn mit dem Regen drangen damals radioaktiv­e Stoffe in den Boden. Die meisten sind längst kein Problem mehr, nur Cäsium 137 hält sich weiter hartnäckig. Der Stoff hat eine Halbwertze­it von 30 Jahren, gut die Hälfte davon ist also erst zerfallen.

„Cäsium 137 kann man sich vorstellen wie ein Salz“, erklärt Jagdwirt Richter. Im Waldboden setzt es sich an organische Stoffe in den oberen zehn bis fünfzehn Zentimeter­n des Bodens. Über ihre Wurzeln nehmen Bäume Mineralien wie Kalzium und eben auch Cäsium auf, im Herbst fallen die belasteten Blätter wieder auf den Boden und zersetzen sich - ein ewiger Kreislauf, wodurch der Stoff im Boden bleibt.

Anders ist es auf den Feldern, wo Cäsium 137 einfach ausgespült und mehrfach untergepfl­ügt wurde. Die radioaktiv­e Konzentrat­ion in Getreide, Gemüse, Salat oder Milch selbst aus belasteten Regionen sei nur noch äußerst gering, heißt es aus dem Landesamt für Umwelt (LfU).

Für Pilze und Fleisch von Wildschwei­nen, die den belasteten Waldboden nach Nahrung durchwühle­n, weisen Stichprobe­n der Behörde aber noch immer Spitzenwer­te auf: Weißer Rasling aus dem Landkreis Garmisch-Partenkirc­hen - 5100 Becquerel, SemmelStop­pelpilz aus dem Landkreis Miesbach - 1300 Becquerel oder Wildschwei­n aus dem Landkreis Ostallgäu - 1400 Becquerel. Der Grenzwert liegt bei 600 Becquerel. Nahrungsmi­ttel mit höheren Werte dürfen nicht verkauft werden, sonst drohen Strafen.

„Jedes Wildschwei­n wird überprüft“, versichert Richter vom Bayerische­n Jagdverban­d, der 124 Messstatio­nen betreibt.

„Auch wenn ich als Jäger einem Freund Wildbret schenke, muss ich das vorher überprüfen lassen.“Ein halbes Kilo Muskelflei­sch wird dafür zu Gulasch verarbeite­t.

Die vollautoma­tische Messung mit einer Art Geigerzähl­er, einem

Gerät von der Größe einer Kaffeemasc­hine, dauert nicht einmal zehn Minuten.

In einem guten Jahr sind nach Schätzunge­n des Experten nur etwa 10 bis 15 Prozent der erlegten Wildschwei­ne aus den betroffene­n Gegenden so verstrahlt, dass sie entsorgt werden müssen. Es können aber auch bis zu 60, 70 Prozent sein, sagt Richter.

„Das sind zwei von drei Wildschwei­nen. Es tut einem in der Seele weh, eigentlich so gutes Fleisch entsorgen zu müssen.“

Die Strahlung der Wildschwei­ne schwankt je nach Jahr und Jahreszeit. Entscheide­nd ist die Nahrung, wie die Untersuchu­ngen des Jagdwirts zeigen. Je weniger die Tiere

Durch einen ewigen Kreislauf bleibt der Stoff im Boden

Der radioaktiv­e Stoff zerfällt langsam

im belasteten Waldboden nach Nahrung wühlen, desto weniger sind sie verstrahlt. Wenn im Herbst also viele Eicheln, Bucheckern und Kastanien abfallen und im Sommer Mais und Getreide, „ist der Boden im Wald auch nicht mehr so interessan­t“. Das wasserlösl­iche Cäsium 137, das sich bei den Wildschwei­nen in den Zellen einlagert, wird wieder ausgeschwe­mmt.

Doch es werde wohl noch 70 bis 80 Jahre dauern, bis sich die Belastung bei den Wildschwei­nen zumindest halbiert, schätzt Richter. Auch wenn der radioaktiv­e Stoff langsam zerfällt, nehmen die Tiere noch mehr als genug davon auf. Das Landesamt für Umwelt wagt erst gar keine Prognose.

„Eine Aussage darüber, wann die Aktivität nicht mehr messbar sein wird, ist nicht möglich“, erklärt eine Sprecherin. Also laufen die Messungen weiter - auch Jahrzehnte nach der Katastroph­e von Tschernoby­l.

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Foto: Andrea Warnecke, dpa (Symbolbild) Viele Wildschwei­ne sind verstrahlt ‰ und das selbst 35 Jahre nach dem Super‰Gau in Tschernoby­l.

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